HERMANN DORFMÜLLER
FREUND, DEMOKRAT, UNTERSTÜTZER DER SCHOOL FOR LIFE
1938 bis 2014

Von Jürgen Zimmer

Einmal, wir waren so um die 15 Jahre alt, segelten wir bei leichter Brise und sonnigem Wetter den Bodensee entlang, von Wasserburg in Richtung Konstanz. Wir übernachteten irgendwo am Strand, angelten, hatten Lindauer Doppelschüblinge dabei, steckten sie auf Weidenruten, hielten sie über ein Feuer aus Seeholz und beobachteten, wie sich die kreuzweise eingeschnittenen Enden der dickbauchigen Würste nach außen bogen und das Fett in die Flammen tropfte. Unser Faltboot hatte neun Quadratmeter Segelfläche, Luftwülste zu beiden Seiten machten es unsinkbar. Ich war mit dem Segeln am See aufgewachsen, zu einer Zeit, in der es weder Segelscheine noch Sturmwarnungen gab. Hermann saß vorne, bediente die Fock, und als sich am frühen Nachmittag des zweiten Tages eine Flaute ausbreitete, glaubten wir doch, dass gegen Abend ablandiger Wind aufkommen würde und wir unter Land zurücksegeln könnten. Ich dachte zudem, jeden Gewittersturm ausreiten zu können.



Es wurde an diesem Nachmittag schwül. Wir trieben in Seemitte auf der Höhe von Hagnau. Hinter Konstanz, im Westen, stieg langsam eine schwarze Wand hoch. Noch schien die Sonne über uns, aber das Wasser sah bleiern aus und uns schwante, was auf uns zukommen könnte. Die schwarze Wand kam näher, schob sich über uns, die ersten Böen fegten heran, der See begann zu kochen.



Aber wir hatten beschlossen, nicht zu reffen, sondern hofften, vor dem Wind, mit Windeseile, Richtung Wasserburg zu segeln. Dieser Sturm riss Jollen um und ließ Yachten gegen Ufermauern krachen, während wir mit zitternden Knien und klammen Händen versuchten, das Boot auf Kurs zu halten. Die Wellen waren inzwischen so mächtig geworden, dass sie unser Boot von hinten überrollten und wir vollschlugen und nun in einer Badewanne saßen und unseren Leichtsinn verfluchten. Wir waren durchnäßt und uns wurde kälter und kälter, und während wir die Landestege von Kressbronn, Nonnenhorn und Wasserburg durch Gischt und Regen erkannten, wußten wir nicht, wie wir eine Landung ohne Bruch überstehen sollten. Ich steuerte das Männerfreibad an, das es damals genau so gab wie das Frauenfreibad. Der Kies sollte uns auffangen. Das tat er auch. Wir rauschten den Strand hoch, konnten kaum mehr gehen und liefen über die Wiese zum Haus auf der Pfannhalde. Dort wartete meine Mutter, machte heissen Tee, gab uns warme Anziehsachen und Decken, und während wir uns wärmten, verklärte sich der Ritt über den Bodensee zu einer nautischen Meisterleistung, während in Wirklichkeit der Sturm uns vor sich hergetrieben hatte wie zwei Korken - Hermann und mich, die wir nochmal gerade davongekommen waren.



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Mit Hermann Dorfmüller, geboren im Dezember 1938, gestorben im Oktober 2014, war ich seit meiner Schulzeit befreundet. Ich war in den fünfziger Jahren aus strenger Internatserziehung entkommen und besuchte nun das Gymnasium auf der Lindauer Insel. Ich erlebte meine erste große Liebe, nutzte vorher nicht gekannte Freiheiten und gründete mit Hermann, Walter, Leo und Uli den 'Roten Faden'. Wir litten gemeinsam unter einem mit dem Schlüsselbund um sich werfenden Schulleiter und rächten uns mit einem relegationsträchtigen Streich am Chemielehrer, der vor einer Klassenarbeit behauptet hatte, Aluminium käme nicht dran - aber es kam doch dran.



Wir entwickelten das abendliche Floßbauspiel, zogen mit Pappe, Scheren, Kerzen, Schnur und leeren Marmeladengläsern ins Männerbad und bauten aus angeschwemmtem Holz kleine Flöße. Die Pappe diente als Segel, ein Marmeladenglas wurde an den Mast gebunden, eine Kerze hineingestellt und das Floß mit ablandigem Wind auf den See geschickt. Wir angelten schwarz in der Argen und versuchten im Degersee Krebse zu fangen. Hermann lernte Gudrun kennen und Leo die Traute. Und wenn mich mein Deutschlehrer nicht aus pädagogischen Gründen (Deutsch: 1; Geschichte: 5) hätte durchfallen lassen, wäre ich am See geblieben und hätte die Welt anders erlebt. So aber wurde ich strafversetzt - nach Salem - und mußte mich zwischen Jugendlichen zurechtfinden, deren Eltern - 1918 nie gewesen? - immer noch so taten, als gehörten sie zum Adel; oder deren Eltern ihren Reichtum auf die dritte und vierte Generation losließen, auf Jugendliche, die nur noch das Geld, aber nicht mehr den unternehmerischen Biss erbten.



Hermann Dorfmüller wurde später Hauptschullehrer in Lindau-Reutin. Seine Schüler kamen noch nach Jahren zu ihm, weil sie ihn verehrten und sich Rat holten. Und er wurde Regionalpolitiker. Er war Vorsitzender des SPD-Ortsvereins Lindau, wurde als Vorsitzender der Jungsozialisten 1972 zum Stadt- und Kreisrat gewählt und blieb das über Jahrzehnte. Die Liste seiner politischen Initiativen und Erfolge ist lang. Ihm ist es wesentlich zu verdanken, dass der Lindauer Stadtrat, von der CSU dominiert, den "Ausstieg aus der Atomkraft" beschloss, ein symbolischer Akt einer ehemals Freien Reichstadt. Er war dabei, als von Aktivisten das Bodenseeufer in Nonnenhorn vermessen wurde und sich - im Widerspruch zur bayerischen Verfassung und ihrem Gebot eines freien Zugangs zu den Gewässern - herausstellte, dass von 6.000 Metern Ufer nur 291 Meter zugänglich waren. Er setzte durch, dass auf einer Gedenktafel die Lindauer Opfer des Nationalsozialismus geehrt wurden, über die sich in der Nachkriegszeit der Mantel des Schweigens gebreitet hatte. Er erstritt die Gründung eines Jugendzentrums, setzte sich für ein menschenwürdiges Wohnen in städtischen Übergangswohnheimen ein und engagierte sich für die Hausaufgabenbetreuung von Kindern. Viele Jahre pflegte er eine deutsch-französische Städtepartnerschaft und war Vorsitzender des Jazzclubs Lindau, der sich bis heute in reichlich engen und deshalb oft überfüllten Kellerräumen des Gasthofs "Zum Zecher" in der Bregenzer Straße zu Jazzabenden versammelt. Es war eigentlich immer ein friedlicher Kampf, der mit demokratischen Mitteln ausgefochten wurde, ob es nun um die Überwindung der Konfessionsschule oder um den Schutz des Trinkwasserspeichers Bodensee ging.



2003 wurde er mit der Georg-von-Vollmar-Medaille geehrt, der höchsten Auszeichnung, die die bayerische SPD zu vergeben hat und die an den Landesvorsitzenden der bayerischen SPD erinnert, der von 1850 bis 1922 lebte. Jahre zuvor war Hermann Dorfmüller mit dem Sozialistenhut ausgezeichnet worden, einem Preis, der in der alten Hutmacherstadt Lindenberg im Allgäu vergeben wird und an die Zeit der Sozialistengesetze 1878 bis 1890 erinnert, an jene Zeit, in der die bayerischen Sozialdemokraten als heimliches Kennzeichen einen schwarzen, breitkrempigen Hut trugen. Erhard Eppler hat den Preis ebenso bekommen wie Peter von Oertzen, Jean Ziegler, Regine Hildebrandt oder Dieter Lattmann. Im Jahr 2007 erhielt Hermann Dorfmüller das Bundesverdienstkreuz.



"Von Schmugglern und Gendarmen, Revoluzzern und Ratsherren: 100 Jahre SPD Lindau, 100 Jahre Stadtgeschichte" heißt ein von ihm verfasstes Büchlein, das er trotz einer trägen Stadtratsfraktion verfasste und bis in die Gegenwart fortschrieb. Ich habe seine kritische Heimatliebe bewundert, seinen Familiensinn, seine Bescheidenheit, seine Courage, das Fähnlein der Aufrechten und der Aufklärung hoch zu halten - und seine Beharrlichkeit, wenn es darum ging, die Verhältnisse zum Besseren zu wenden.



Hellmut Becker, seinerzeit Rechtsanwalt in Kressbronn, Verteidiger im Nürnberger Prozess und Gründer des heutigen Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung in Berlin, hat einmal gesagt, die Landschaft am See sei zu schön, um nachzudenken. Aber das war nur eine Pointe, denn das Leben Hermann Dorfmüllers - wie auch das seiner Gefährten am See - war und ist nicht nur durch Nachdenken, sondern auch durch Neudenken geprägt.



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Die Ideengeschichte der School for Life hat zwei Geburtsorte: Chiang Mai und Lindau. In Lindau hatte meine Mutter, während sie - an Leukämie erkrankt - gelassen auf ihr Ende wartete, die Idee eines "Konzerts für den Frieden". Sie versammelte eine ökumenische Gruppe um sich und fing mit den Planungen an. Gudrun, Hermanns Frau, war dabei, und als das Konzert vorbereitet war und die Plakate hingen, verabschiedete sich meine Mutter, schlief ein, wachte nicht wieder auf, und das Konzert fand am Tag ihres Begräbnisses mit etwa tausend Besuchern und hundert Musikern aller Stilrichtungen in einer der Stadtkirchen Lindaus statt. Später nutzten wir die damals gesammelten 20.000 DM, um die School for Life zu starten.



Hermann Dorfmüller hat in Lindau über all die Jahre für die School for Life getrommelt, hat Berichte in der "Lindauer Zeitung" geschrieben und Aufrufe formuliert, um Spenden zu sammeln; er wurde ihr ständiger Begleiter und Förderer, ohne je dort gewesen zu sein. Er war die Hauptstütze in der regionalen Verankerung eines kleinen internationalen Projekts.



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Hermann hatte mir zugeredet, nach Wasserburg auf die Pfannhalde zurückzukommen. In unserem Alter solle man nichts aufschieben. Außerdem könnten wir noch viel zusammen machen. Ich fand, dies sei ein guter Ratschlag und hatte uns noch zwanzig Jahre gegeben. Nun ist er nicht mehr da. Der Umzugstermin ist gesetzt. Die guten Erinnerungen an meinen besten Freund werden mich bis in meine letzten Tage begleiten.