Günter Faltins neues Buch ist erschienen. Sein wichtigstes.

DAVID GEGEN GOLIATH - Wir können Ökonomie besser
Murmann I Haufe, EUR 16,95

Eine Besprechung von Jürgen Zimmer

In Steinstücken und Bangkok
Kurz nach der Wende besuchten mich zwei ältere freundliche Herren in Steinstücken, jenem 200-Seelen-Dorf, das in den Jahren davor eine auf DDR-Gebiet liegende und zu West-Berlin gehörende Exklave darstellte. Sie seien, sagten sie, nebenan in Babelsberg bei der DEFA Filmarchitekten gewesen und nun im abgewickelten Ruhestand. Aber sie hätten in den letzten Jahren an einem Geheimnis gebastelt, das sie mir mitteilen und mit mir besprechen wollten, sofern ich ihnen versichern könnte, die Idee nicht zu entwenden. Ich versprach es ihnen. Sie öffneten daraufhin einen mitgebrachten großen Karton und holten das Modell eines Flughafengebäudes heraus, das - wenn ich mich recht erinnere - eine zwölfeckige Form hatte, sozusagen eine vieleckige Variante des Flughafens Tegel. Dies sei ein Modell, das nach seiner Verwirklichung mühelos der Bewältigung von 12 Millionen Fluggästen dienen könne, ein Modell der kurzen Wege und der kurzen Umsteigezeiten. Ich ließ mir einen Nachmittag lang alle Details erklären und war begeistert. Die Hauptfrage der beiden Herren betraf die Vermarktungschancen - in Arabien, Südostasien, China, Lateinamerika oder Afrika? Wie bringt man ein solches Projekt auf den Weg, ohne dass die Idee abgekupfert wird und die Erfinder außen vor bleiben?
Ich sah die beiden Herren nie wieder, aber ich musste gelegentlich an sie denken und fragte mich, warum ihr genial ausgedachter Flughafen nirgendwo gebaut wurde. Inzwischen weiß ich es. Es fehlen die kilometerlangen Einkaufspassagen, die man zum Beispiel in Bangkoks internationalem Flughafen Suvarnabhumi durchqueren muss, um dann endlich das Gate E 7 zu erreichen. Vorbei an einem Einheitsallerlei, das bei mit zwei Reaktionen auslöst: Ärger über die von den Wegelagerern verordneten langen Passagen, und Langeweile angesichts der immer gleichen Angebote, egal, in welchem Teil der Erde man den Duty Free-Bereich überwinden muss. Da sind sie: Tom Tailor, Escada, Prada, Tommy Hilfiger, Louis Vuitton, Armani, Calvin Klein, Lacoste, Nina Ricci, Marc O'Polo, Dolce & Gabbana und so weiter und so weiter, und es ist ja nicht so, dass nur die Flughäfen mit den Brandings verseucht sind, sondern auch die Städte, und dass es egal ist, wo du gerade bist:

Sie umstellen dich wie eine Meute von Staubsaugern und wollen dich hereinholen und dir ein Vielfaches des Preises abluchsen, den das Produkt in der Herstellung gekostet hat. Ja, sie wollen dich über den Tisch ziehen, und mehr noch: Du sollst mit ihrem Logo vorne auf dem Hemd herumlaufen und auch noch stolz darauf sein, als Marketing-Puppe. You can skin the cat in different ways. Gestern sah ich ein Pärchen mit "Levis" auf ihren zwei T-Shirts und dachte: Ihr habt auch nicht mehr alle Tassen im Schrank.
Wir sind nun schon mittendrin in Günter Faltins neuem und wichtigstem Buch "David gegen Goliath", dem Augenöffner, nach dessen Lektüre man sich fragt, warum uns nicht schon früher der Blitz der Erkenntnis getroffen hat. Das Unbehagen war ja da, aber unsere Erklärungsversuche blieben verschwommen.

Faltin zum Ersten
Carl Friedrich von Weizsäcker hat Anfang der 1960er Jahre in der Universität Hamburg eine Vorlesung über Kant gehalten. Er teilte uns zu Anfang mit, dass er Kant in drei Durchgängen erläutern wolle: erstens Kant in einer Viertelstunde; zweitens Kant in anderthalb Stunden; drittens Kant den Rest des Semesters über.

Faltin zum Ersten, nicht in einer Viertelstunde, aber in ein paar Sätzen, lautet so:

Erstens: Die Ökonomie, die den Mangel bekämpfen soll, hat ihre Schuldigkeit getan. Zumindest in den industrialisierten Ländern sind wir im Schlaraffenland angekommen. Der Mangel ist beseitigt. Die Ökonomie der alten Art kann gehen.

Zweitens: Tut sie aber nicht. Sie macht weiter wie ein ungebremstes Riesenrad auf abschüssiger Fläche. Da es keinen wirklichen Mangel mehr gibt, schafft sie einen künstlichen. Sie redet uns ein, wir bräuchten dieses & jenes, obwohl wir es in Wirklichkeit gar nicht brauchen.

Drittens: Damit wir uns den künstlichen Mangel selbst suggerieren, hat die Ökonomie einen gewaltigen Pluderich entwickelt, genannt Marketing. Während im Mittelalter den Händlern um die 10 Prozent für ihre Leistungen zugebilligt wurden, hat die Ökonomie heute dieses Verhältnis in extremer Weise zu unseren Ungunsten verschoben. Sie verlangt das Zehn- bis Fünfzehnfache des Herstellungspreises. Wir bezahlen also horrende Summen dafür, dass wir Produkte erwerben, die eigentlich überflüssig sind.

Viertens: Damit wir schick finden, was wir kaufen, hat die Ökonomie das Branding erfunden. Wir Kunden sollen unsere Identität über die Bindung an eine Marke definieren. Besonders verantwortungslos geht es zu, wenn als Zielgruppe und Opfer des Branding Kinder ausgesucht werden: Ein Junge aus meinem Bekanntenkreis, dessen Vater zur Protestbewegung der frühen 1990er Jahre gehörte, definiert an Weihnachten und an seinem Geburtstag den Wert seiner Geschenke nahezu ausschließlich über den im Internet recherchierten Kaufpreis und das Image der Marke. Je teurer desto besser? Quark mit Soße.

Fünftens: Diese Ökonomie, die das von Faltin so genannte Marketing-Monster erfunden hat, schiebt uns dem Abgrund entgegen. Wir leben weit über unsere Verhältnisse. Wir plündern den Planeten. Um damit aufzuhören, müssten wir unseren Konsum um 80 Prozent senken. Tun wir aber (noch) nicht. Und wenn wir unsere Wahnsinnsökonomie auch noch den Entwicklungs- und Schwellenländern eingeredet haben, dann prassen sie mit, und dann steuern wir auf eine irgendwann unumkehrbare Katastrophe zu, weil der Konsum ein Mehrfaches dessen ausmacht, was der Planet leisten kann.

Sechstens: Um hier gegenzusteuern, müssen wir den Ökonomen der falschen Richtung das Heft aus der Hand nehmen. Wir, du und ich, sind herausgefordert, zu Citizen Entrepreneurs zu werden. Wir sind die Davids, die den Goliaths Paroli bieten. Wir setzen der pervertierten Ökonomie eine andere Ökonomie entgegen, die auf das Zeitalter der intelligenten Bescheidenheit vorbereitet und es mitgestaltet. Nicht "Haben", sondern "Sein" ist dann angesagt: hohe Lebensqualität bei knappstem Verbrauch von Ressourcen.

Siebtens: An die Stelle der ökonomischen Taugenichtse, die ins Aus geschickt werden, treten die erfinderischen Entrepreneure, die zunächst einmal herausgefordert sind, dem Marketing-Monster den Kampf anzusagen und die Preise umweltschonender Produkte auf ein Minimum zu senken.

Achtens: Die Arbeit wird weniger? Macht nichts. Denn bei heruntergedrückten Preisen müssen wir auch weniger bezahlen. Der Übergang vom "Haben" zum "Sein" bedeutet zudem: weg von produktintensiven Unternehmungen und hin zu daseinsbereichernden - es ist der Sprung in den nicht-materiellen Sektor. Das ist ein Schreckgespenst für Unternehmer der alten Art; sie müssen lernen, dass sie ihr Ziel, den Mangel zu beseitigen, erreicht haben.

Faltin zum Zweiten
Rumms. Die Unternehmer der falschen Richtung sollen sich selbst abschaffen? Fressen sie Kreide und liegen dann doch wie der böse Wolf auf Lauer? Wo samma denn?
Die Umsetzung der Einsichten Günter Faltins bedarf einer weltweiten Bewegung zweier Gruppen: der das "Sein" bereichernden Entrepreneure, und der am "Seins"-Glück interessierten Kunden, denen der Spatz in der Hand - das kleine Paradies auf Erden - näher ist als die Taube auf dem Dach - das große Paradies im Himmel.

So stellt Günter Faltin das Prinzip Hoffnung dar und skizziert das gelobte Land, das Reich des geglückten Daseins, ausgefüllt mit den Freuden der kulturellen Bildung, der menschlichen Beziehungen, der künstlerischen Tätigkeiten, des Verliebtseins. "Lacoste" kann uns dann gestohlen bleiben.
Ein langer Weg? Schon, schon. Aber auch unterwegs kann es bereits jede Menge an Vergnüglichem geben.

Faltin zum Dritten
Faltins Kritik und seine Vision bedarf einiger Erläuterungen.
Wir sind im Schlaraffenland angekommen. Niemand glaubte Anfang der 1950er Jahre daran, dass dieses Märchen einmal Wirklichkeit werden könnte. Aber anstatt inne zu halten und uns einzurichten, arbeiten wir uns weiter ab und hetzen hinter künstlich erzeugten Bedürfnissen her. Unser Glück hängt aber nicht mehr von der Beseitigung des Mangels ab. Faltin referiert John Maynard Keynes, der das schon 1930 vorausgesehen hat. Es würden zwar Übergangsschwierigkeiten auftauchen, Keynes nennt das die "technologische Arbeitslosigkeit", die deshalb entstünde, weil die Entstehung von Mitteln zur Einsparung von Arbeit rascher wirksam würde als die Fähigkeit, neue Formen von Arbeit zu finden.
Aber nun kommt es eben darauf an, wie man es sieht: Als Glücksmarie erleben wir, schreibt Faltin, die Chancen für "mehr freie Zeit, mehr Lebensfülle, weniger körperliche Belastung und im Prinzip auch weniger soziale Konflikte". Aber als Pechmarie wird uns schwarz vor den Augen, und zur Zukunft der Arbeit "gibt es umfangreichen Stoff, Zoff und viele Fronten".

Unternehmen der alten und neuen Art. Wenn heute die Herstellung von Waren nicht mehr das Problem darstellt, sondern ihr Absatz, und wenn durch die Schaffung von künstlichem Mangel als leitendes Prinzip der Unternehmen die Profitmaximierung obenan steht, dann läuft das auf einen von Faltin konstatierten Irrsinn hinaus: Wenn die Produkte schon weniger nützlich sind, dann zahlen wir wenigstens höhere Preise dafür.

In "Reichtum von unten", einem 1996 veröffentlichten Frühzünder in Sachen Entrepreneurship, haben wir die Geschichten des Schweizers Gottlieb Duttweiler ("Migros") und der Britin Anita Roddick ("The Body Shop") erzählt; beide waren Vorkämpfer dafür, das Verhältnis von Herstellungskosten und Verkaufspreis ganz klein zu halten und den Zwischenhandel auszuschalten.
Die Tricks des Marketing-Monsters. Sie sind vielfältig. Da wird vorgegaukelt, je teurer ein Produkt sei, desto höhere Qualität habe es. Waren werden emotional aufgeladen - besonders gut zu beobachten bei "Red Bull". Es wird getäuscht: Die originalen Zutaten des "Pesto Verde" von Bertolli kommen nur in Spuren vor, im Wesentlichen besteht es aus billigen Ersatzstoffen. Die emotionale Aufladung der Ware durch die Marke wird wichtiger als ihre Qualität. Faltin nennt ein krasses Beispiel für die Unverfrorenheit verkaufsfördernder Lyrik: Der "Original Schweizer Kräutertee" wirbt auf dem Etikett mit einer "Kräutertradition seit 1922" und lädt zu Assoziationen Richtung Alpen, Almen und Enzian ein. Er kostet 2,55 Euro für 200 Gramm und besteht zu 93,4 Prozent aus Zucker. "Eine halbwegs korrekte Produktbezeichnung", notiert Faltin, "müsste heißen: aromatisierter Zucker. Für diesen Zucker muss man auf das Kilo umgerechnet 13,63 Euro bezahlen. Normaler Zucker kostet im Einzelhandel üblicherweise um 65 Cent pro Kilogramm."

Goldgruben. Früh übt sich, was später ein Opfer des Marketing-Monsters werden will. Das fängt bei dem Milliardengeschäft des Muttermilchersatzes an und setzt sich fort über kompakte Packungen für künstliche Kleinkindnahrung, die zu hohen Preisen Mütter und Väter dequalifizieren und davon abhalten wollen, die Nahrung für die Nachkommen selbst zu komponieren und zuzubereiten. Die Bindung an eine Marke wie Nestlé kann dann zum mitentscheidenden Faktor für die Durchsetzung einer großen Spanne zwischen Herstellungskosten und Verkaufspreis werden.

Nestlé und die Goldgrube: Das Wasser "Pure Life" wird beispielsweise in Kanada für 4 US-Dollar pro 1 Million Liter eingekauft. Verkauft werden die 1 Million Liter für 2 Millionen US-Dollar. Das Wasser, mit einem Mineralmix versetzt, wird als edles Getränk angeboten, um damit die Kundschaft über den Tisch zu ziehen. Da trinken wir doch lieber gleich Leitungswasser; es ist günstig und schont die Umwelt - Flaschen haben ausgedient. Und wir brühen den Kaffee selber auf und verbrauchen keine 200 Liter Wasser, die für die Produktion einer einzigen Nespresso-Kapsel notwendig sind.
Das Einheitsallerlei. Es läuft, schreibt Günter Faltin, von Armani bis Versace auf eine Konformitätskultur hinaus: "Jene Gleichmacherei, die Kapitalisten gerne den Sozialisten vorwerfen, praktizieren sie nun selbst." Auf dem Weg von Bangkok zum Flughafen Suvarnabhumi zählte er 243 Riesentafeln mit Werbeflächen, im Schnitt etwa 30 Meter breit und 15 Meter hoch. Da stehen keine Informationen drauf, sondern Firmenlogos: Honda, Toyota, Air Asia, mit Anmutungen wie Schönheit, Vertrauen, Zukunft. Wir Konsumenten bezahlen diese Ungetüme.

Citizen Entrepreneurs!
Wenn, so der von Faltin zitierte Nobelpreisträger und Wirtschaftsprofessor Amartya Sen, die Wirtschaft sich darauf richten müsse, "den Reichtum des menschlichen Lebens zu fördern, statt den Reichtum der Wirtschaft", wenn Reichtum der "Haben"-Welt nicht glücklich macht, wenn Dagobert Duck, mag er auch täglich in seinen Goldtalern baden, ein Unglückswurm ist, dann ist eine Ökonomie der Umkehr gefordert, die nicht von wenigen, sondern von vielen Menschen praktiziert wird. Faltin rückt hier, und das ist sein entscheidender Hebel, den Citizen Entrepreneur in den Mittelpunkt. Jede Bürgerin, jeder Bürger ein Entrepreneur! Auf die Barrikaden, Entrepreneure! Holt die Aristokraten der Profitmaximierung aus ihren Schlössern! Treibt die großen Fische vor euch her, bis sie auf einer Sandbank zappeln!
Am 28. Oktober 1990 schrieb die philippinische Journalistin Maria Avenir in "The Manila Chronicle" einen Artikel unter dem Titel "Putting guerilla economics into practice" über zwei deutsche Professoren, die mit den Armen aus den Slums Probeläufe für ökonomische Angriffe auf die Reichen durchführen würden. Zwischen den Zeilen empfahl die Journalistin der "New People's Army", der philippinischen Guerilla-Bewegung, sie möge nicht länger an Marx und Lenin glauben, sondern sich lieber mit den ökonomischen Waffen des Gegners vertraut machen und sie nutzen. Gewehre seien dann eher hinderlich. Recht hatte sie, denn damals schrieben wir: "Es gilt, die soziale Frage neu zu stellen und auf andere Weise zu beantworten. Der Angriff auf die Reichen dieser Welt muss neu formuliert und anders in die Wege geleitet werden."

Mittlerweile sind die reichen Gegner aus weiteren Gründen ins Visier geraten: Es sind die Profitmaximierer und Dampfwalzenbetreiber, die in ihrem ökonomischen Wahn die Ressourcen dieser Welt verschleudern und die Katastrophe in Kauf nehmen.
Nun aber: Faltin allein auf weiter Flur? Der einsame Rufer in der Wüste? Greta Thumbergs großer Bruder, der eine Bewegung ins gelobte Land des "Seins" auf den Weg bringt?
Faltin als radikale Vorhut will nicht ohne Truppe bleiben, und deshalb widmet er dieser Truppe einen großen Teil seines Buches. Wer ist es? Wir sind es. Du und ich. Alter und Geschlecht spielen keine Rolle. Faltin beschwört uns in zunächst sanfter Weise, gegen die Goliaths dieser Welt als eine ungleich größere Schar von Davids zu Felde zu ziehen. Die Intelligenz des Schwarms kleiner Fische gegen die Trägheit der großen.

Er nennt uns Citizen Entrepreneurs. Also auf, Schwestern und Brüder, zur Sonne, zur Freiheit des nicht-materiellen Zeitalters? Meine erste Reaktion: du kannst mich mal. Die zweite: eigentlich richtig, was er sagt, aber nichts für mich. Die dritte: nachdenken über eine unternehmerische Idee der nicht-materiellen Daseinsbereicherung. Wollen doch mal sehen.

Wir Citizen Entrepreneurs haben, wenn ich Faltins Vorstellungen richtig überblicke, zwei große Aktionsfelder: Entweder wir nehmen das Marketing-Monster aufs Korn und sorgen mit dafür, dass Nützliches des täglichen Gebrauchs in den Preisen radikal heruntergedrückt wird. Oder wir gestalten das Zeitalter des nicht-materiellen Glücks mit. Auch damit kann man, argumentiert Faltin, angemessenes Geld verdienen.

Faltin I. ist eine Kassandra: "Wir befinden uns in einem Wettlauf mit der Zeit - bevor das Ausmaß und die weitere Verschärfung der Problemlagen unsere Handlungsmöglichkeiten übersteigen... Wir brauchen keine unnützen Produkte, die allein dem Zweck dienen, Unternehmensgewinne zu maximieren. Weil wir uns Verschwendung nicht länger leisten können. Weil wir unseren Planeten überlasten. Weil wir in einer vollen Welt leben und nicht mehr in einer leeren. Weil wir über unsere Verhältnisse leben."
Faltin II. ist das Prinzip Hoffnung: "Die Ökonomen arbeiten zwar mit dem Modell vom egoistischen Menschen, aber im wirklichen Leben werden die Handlungen der meisten Menschen sowohl von Selbstsucht als auch von Mitgefühl motiviert... Die amerikanische Literatur spricht in diesem Zusammenhang von aufgeklärtem Selbstinteresse ('enlightened self-interest'), im Gegensatz zum blanken Egoismus ('selfishness')."

Faltin will eine andere personelle Besetzung, "Menschen, die sich in das Feld der Ökonomie begeben, gerade weil sie dessen Zerstörungspotenzial erkennen und ihm Alternativen entgegensetzen wollen." Er bezieht sich auf Beispiele aus der Geschichte, in der die Demokratie Schritt um Schritt den Marotten von Fürsten und ihren Generälen abgetrotzt wurde. Faltin sympathisiert mit den studentischen Rufen nach mehr Teilhabe in der Politik, die 1832 auf dem Hambacher Fest unüberhörbar wurden. "Nicht die Rhetorik der Aufklärung allein hat im 18. und 19. Jahrhundert dem Bürgertum die politische Teilhabe erfochten, sondern vor allem die zunehmende Entfaltung seiner wirtschaftlichen Kraft." Und: "Die Entrepreneure, die hier als neue Kraft gesehen werden, sind die Opposition zur real existierenden Ökonomie."

Bei der Gelegenheit gilt es, einige Mythen zu versenken, zum Beispiel den vom gnadenlosen Preiswettbewerb. Lachhaft, wenn so viel Luft in den Preisen steckt. Die meisten Discounter, so Faltin, seien Milliardäre geworden. Oder den Mythos, dass nur dann etwas verändert werden könne, wenn es wie in der Politik eine Mehrheit dafür gäbe. Nein, Pioniere sind gefragt, bevor sich der Mainstream überzeugen lässt.

Faltin will eine Welt des Entrepreneurship schaffen, "in der individuelle Fantasie und Leistung anerkannt und belohnt werden, aber die Früchte solcher Bemühungen auch der Gemeinschaft zugutekommen". Da ist er mit den Soziallehren der Weltreligionen in guter Gesellschaft. Muhammad Yunus hat mit der Gründung der Grameen Bank in Bangladesh gezeigt, dass man durch Mikro-Entrepreneurship Armen aus der wirtschaftlichen Abhängigkeit heraushelfen kann. Sehr gut. Mindestens so wichtig finde ich die Studien des peruanischen Ökonomen Hernando de Soto zur Rehabilitation des informellen ökonomischen Sektors mit seinen vielen Kleinstunternehmern, die am Eintritt in den regulären Markt durch einen Wust bürokratischer Regelungen abgehalten werden: weg mit dem Gestrüpp und die Kleinen in den Markt lassen - dann könnte mit ihnen zusammen jene von Faltin gewünschte "Entrepreneurial Society" entstehen, die die pathologische Aristokratie der Gewinnmaximierung zugunsten einer "caring economy" ablöst. Wenn diese Entrepreneure es schaffen, Eigensinn und Gemeinsinn in der Balance zu halten, dann werden sie, so Klaus Schwab, Gründer des World Economic Forum, zu den Hoffnungsträgern für eine bessere Welt.

Lasst viele Blumen blühen!
In der School for Life Chiang Mai / Thailand, in der Kinder diskriminierter ethnischer Minderheiten ein Lernen als Abenteuer praktizieren, gilt das Motto "the difference is beautiful, not the run-of-the-mill standard". Dies sollte auch die "Entrepreneurial Society" der Zukunft kennzeichnen: Der Unterschied ist schön, nicht der Einheitsbrei. Lasst deshalb viele Blumen blühen! Innovation muss keine Angelegenheit von Spezialisten sein. Was nunmehr "Citizen Science" genannt wird, wurde schon in der Kindergartenreform der 1970er und 1990er Jahre als Handlungsforschung mit Zehntausenden von Erzieherinnen, Eltern und Kindern längst praktiziert. Man muss nicht das Rad neu erfinden.

Nicht mit den Mitteln der Goliaths arbeiten
Wir kleinen Davids sollten uns nicht auf eine Materialschlacht mit den Goliaths einlassen. Die würden wir verlieren. Faltin empfiehlt uns, eine "Ökonomie der Sympathie" zu entwickeln. So wie 1969 beispielsweise die "Aktion Roter Punkt", die aus der Studentenbewegung heraus geboren wurde. Ich hatte auch einen. Er klebte auf der Frontscheibe meiner "Ente" und bedeutete: Du da am Straßenrand kannst mich anhalten; und ich nehme dich mit, wenn du ungefähr in die Richtung willst, in die ich auch fahre. Authentizität und Sympathie sind Merkmale des jungen Entrepreneurship.
"When Giants Learn to Dance" hieß 1989 ein Buch von Rosabeth Moss Kanter. Gemeint: Auch Goliaths sind endlich. Faltin zitiert Brecht: "Das Große bleibt groß nicht, und klein nicht das Kleine": So wie "United States Steel" und "United Fruits" in der Versenkung verschwunden sind, könnte es auch den Großen des Silicon Valley ergehen. Small is more efficient, liebe Goliaths.

Niederschwellig anfangen
Der praktische Teil des neuen Buchs von Faltin - "Wissen heißt: macht!" - ist sein Heimspiel. Die Citizen Entrepreneurs bekommen jede Menge Hinweise darauf, wie sie ein tragfähiges Unternehmenskonzept entwickeln und im Markt umsetzen können. Faltin empfiehlt einen niederschwelligen Zugang zum Entrepreneurship: die Freundschaftsökonomie. Er illustriert sie am Beispiel eines Studenten in seiner Sprechstunde: "Er hätte eine Lehrveranstaltung bei mir besucht, jetzt brauche er einen Schein. Wann das gewesen sei? Das wisse er nicht mehr. Was denn der Inhalt seinerzeit gewesen sei? Auch das wisse er nicht mehr. Er muss gespürt haben, dass sich meine Stimmung gefährlich veränderte. Schnell fügte er hinzu: 'Aber ein Unternehmen habe ich gegründet.'

'Oh', sagte ich. 'Erzählen Sie.' Auf einem italienischen Bauernhof habe er übernachtet. Mit anderen Gästen. Die hätten alle bei der Abreise das Olivenöl des Bauern eingepackt. Es sei gut, hätten sie gesagt, und preiswert. Da hätte er auch ein paar Flaschen mitgenommen. Zum Weiterverkaufen. Seinem Bekanntenkreis hätte das Öl ebenfalls gefallen. Wie den Gästen auf dem Hof. Das Öl sei von besserer Qualität und preiswerter gewesen als das im Handel erhältliche. Nachbestellungen hätte er erhalten. Daraus sei ein kleiner Handel entstanden. Die Sache habe sich aber herumgesprochen. Zum Schluss habe er 400 Kunden gehabt. Eines Tages erhielt er ein Angebot von Tengelmann, ihm seine Firma abzukaufen. Für 30.000 Euro. Das habe er angenommen."

Darf man dabei gutes Geld verdienen? Aber ja, in vernünftigen Grenzen. Der Preis der Ware, argumentiert Faltin, sollte das Dreifache der Produktionskosten nicht übersteigen.
Start-ups, die sich "vom kleinen u zum großen U" weiterbewegen wollen, erfahren von Faltin viele nützliche Hinweise, die sie vor Abstürzen bewahren können. Er setzt auf ein "konzept-kreatives Gründen" und auf eine sorgfältige Entwicklung des "Entrepreneurial Design". Von dessen Qualität hängt vieles ab. Und auch davon, dass es zu uns als Person passt, zu unseren Leidenschaften, zu unserem ganz persönlichen Anliegen. Wir Davids mögen beides beachten: den Markt und unsere Leidenschaft.
Die Zeiten, in denen sich junge Unternehmer 24 Stunden lang atemlos um alles und jedes kümmern mussten, sind vorbei. Der Entrepreneur von heute und morgen ist, so Faltin, kein Tausendsassa mehr, sondern eher ein Orchesterdirigent, der das Zusammenspiel von Komponenten leitet, die von anderen, von professionellen Partnern eingebracht werden. Die Professionalität der Komponenten und ein rechtzeitiges "Proof of the Concept" - ein Realitäts-Check des Unternehmenskonzepts - sind entscheidend, nicht die Arbeitswut des Entrepreneurs. Und: Die neue Marketingkultur erklärt statt zu verklären.

Weniger ist mehr
"Es spricht vieles dafür", schreibt Faltin, "dass wir in Zukunft mit weniger materiellem Konsum auskommen müssen. Die Kunst wird darin bestehen, das Weniger so attraktiv zu machen, dass die Menschen es gerne annehmen. Eine absolut neue Aufgabe für Ökonomen."
In "Reichtum von unten" schrieben wir 1996: "Es gilt, beim relativen Abstieg - statt in Wut und Fremdenhass zu verfallen - die Qualität intelligenter Askese zu entdecken. Und auch für die Aufsteigenden ist - freiwillig oder veranlasst - Müßiggang vonnöten. Die Tage der Zügellosigkeit im Umgang mit natürlichen Ressourcen sind gezählt. Markt muss man nicht so verstehen, dass immer neue Bedürfnisse herausgekitzelt werden und wir Sklaven einer sich rascher drehenden Konsumspirale werden. Markt birgt die Chance des aufgeklärten und sparsamen Umgangs mit knappen Ressourcen.
Gefragt sind qualitativ hochwertige, ausgereifte, einfache, langlebige Produkte. Gefragt ist die maximale Qualität für die Hose, die Waschmaschine, die Glühlampe, den Fernsehapparat. Modernstes Wissen ist notwendig, um einfachste Lösungen zu finden und nicht ständig High-Tech-Schrott zu produzieren. Nicht das wechselnde Äußere, vielmehr der Kern des Produkts ist wichtig. Nicht auf die Akkumulation von High-Tech kommt es im Leben an, sondern auf High Quality.
Gefragt sind Gerätschaften hochentwickelter Einfachheit, die nicht nur lange - möglichst lebenslang - halten, sondern so gebaut sind, dass sie kostensparend gepflegt und repariert werden können. Wer weniger kaufen muss, kommt auch mit weniger Verdienst aus.
Intelligente Askese bedeutet, sich lieber einmal ein erstklassiges Produkt zu kaufen als nacheinander viele zweitklassige, bedeutet davon entlastet zu sein, in kürzer währenden Abständen nach Neuem zu gieren, nur weil die Produktfassade out und eine neue in sein soll."

Im Himmel und auf Erden
Es gibt einen schönen Film von Joseph Vilsmaier über "Die Geschichte vom Brandner Kaspar". Das ist ein bayerischer Bauer und Wilderer, der vom Boandlkramer, dem Tod, geholt werden soll, ihn aber mit viel Himbeergeist und gezinktem Kartenspiel über den Tisch zieht und ihm noch einige weitere Jahre abtrotzt. Am Ende landet der Kaspar dann doch im Himmel - im bayerischen. Es ist eigentlich mehr ein Biergarten, und insoweit könnte man sagen: passt scho.
Nun stellen wir uns in ganz weiter Zukunft dort oben die Engel Faltin, Brecht, Walser, Ecclestone, Duttweiler und Roddick vor, Manna trinkend und Hosianna singend. Ecclestone, dem noch keine Flügel gewachsen sind, ist ein bisschen zerknirscht über den Unsinn, den er vor Zeiten in die Welt gesetzt hat.

Duttweiler und Roddick sinnieren darüber, dass sie mit ihren Unternehmen damals besser etwas kleiner geblieben wären. Engel Brecht guckt durch das himmlische Fernrohr und sagt, seht mal, da unten herrscht Müßiggang. Walser zu Brecht: da schaust du, gell: eine Todsünde weniger, die sollen ja alle müßig gehen, hat Engel Faltin immer gesagt. Nun schaut auch Engel Faltin nach drunten. Was sieht er? Das Paradies auf Erden. Alle sind bescheiden und glücklich. Die Erde kann sie wieder versorgen.
Die Engel gucken sich an. Sie schauen nach unten und diskutieren und schauen... Und beschließen, bei den himmlischen Mächten einen Antrag auf Rückführung zu stellen.