Die Erfindung des Situationsansatzes

Die Erfindung und Weitererfindung des Situationsansatzes gleicht einem Puzzle, dessen Teile über Zeiten und Regionen verstreut sind. Wie viele Teile? Keine Ahnung, vermutlich sehr viele. Hier sind einige davon, die zu meinem Verständnis des Ansatzes beigetragen und, auch wenn sie mitunter weit zurückliegen, Spuren hinterlassen haben.

In Lappland, um 1925

Mein Großvater Wolfgang Paeckelmann, damals der noch reichlich junge Direktor eines Barmer Gymnasiums, wandert mit einem Dutzend seiner Schüler durch Lappland: eine menschenleere Landschaft ohne Wegweiser. Da hilft der Blick auf den Kompass. Anfangs zeigt er die Richtung an, dann aber spielt er verrückt. Die Wanderer verlieren die Orientierung und merken nach Tagen, dass sie im Kreis gelaufen sind. Am Schluss essen sie – halb verhungert – Laub, bevor sie endlich auf Menschen treffen und außer Gefahr sind. Was war geschehen? Die Gruppe hatte die Eisenerzvorkommen in der Gegend von Kiruna nicht berücksichtigt, deren Anziehungskraft sich kein Kompass entziehen kann.

Dreißig Jahre später erzählt mir mein Großvater diese Geschichte. Die Gruppe war in eine Schlüsselsituation geraten und hatte überlebt. Ich habe mir diese Geschichte gemerkt. Ihr Thema: Lernen im Ernstfall und als Abenteuer.

Wasserburg am Bodensee, um 1946

In der Volksschule mit vier Klassen in einem Raum herrscht der Lehrer Schneider wie ein Duodezfürst. Wer aufmuckt, bekommt mit einer scharf geschlagenen Weidenrute 'Tatzen' auf die Innenfläche der Hand. Während wir Kleinen solche Bestrafungen heulend, gleichwohl widerstandslos hinnehmen, gibt es einen von den Kriegswirren hergeführten Sechzehnjährigen, den Fischer Rudi, der sich vom Schneider nichts sagen lässt. Einmal allerdings schreit der Schneider – rot vor Wut – den Rudi an und lässt ihn zur Züchtigung vortreten. Als er zuschlagen will, zieht Rudi die Hand zurück, holt aus und schmiert dem Schneider eine, so kräftig, dass dieser zu Boden geht.

Ich erinnere mich an Rudis triumphierende Blicke, als er den Raum verlässt. Seitdem wurde er in Wasserburg nie mehr gesehen. Erst viele Jahre später entdeckte ich ihn durch Zufall als Fahrer beim Zirkus Krone wieder.

Rudi, Superstar, hatte auf den Punkt gebracht, was uns Knirpsen auf der Seele lag: der Zucht- und Prügelanstalt Paroli zu bieten. Es war in unseren Augen ein erstklassiger Abgang. Und das Thema Abschied vom 'Museum Schule' blieb mir bis heute.

Berlin 1967

Shaul B. Robinsohn, einer der Direktoren am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, hatte mich in sein Team geholt. In Kritik an den fächerfixierten Stoffkatalogen der Lehrpläne entwickelten wir ein "Strukturkonzept der Curriculumrevision". Robinsohn dachte zunächst an zwei Schritte. Schritt 1: Bestimmung von Qualifikationen; Schritt 2: Entwicklung von Curriculum-Elementen, durch die sich die Qualifikationen erwerben lassen. Wir diskutierten hin und her und erweiterten das Strukturkonzept. Schritt 1: Identifizierung und Analyse von Situationen; Schritt 2: Bestimmung von Qualifikationen; Schritt 3: Entwicklung von Curriculum-Elementen.

Die Veröffentlichung des "Strukturkonzeptes der Curriculumrevision" sorgte vor allem bei den Vertretern der Schulfächer für reichlich Wirbel. Sie fühlten sich bedroht. Robinsohn, durch Emigration dem Holocaust entkommen und nach dem Krieg zurückgekehrt, war ein konservativer Radikaler. Radikal war das Konzept, eher konservativ seine ausschließliche Favorisierung von Experten für die Curriculumentwicklung. Noch kamen die Menschen, die in den Situationen handelten, als Mitgestalter im Konzept nicht vor.

Weinheim, Bergstraße 1970

Die Zeitschrift "betrifft: erziehung" veröffentlicht einen Aufsatz des mexikanischen Priesters Ivan Illich unter dem Titel "Schafft die Schule ab!" Im Jahr darauf erscheint Illichs Buch "Entschulung der Gesellschaft", ein Knüller, der für weltweite Diskussionen sorgt. Schule, argumentiert Illich, zementiere den Unterschied zwischen den Armen und den Reichen. Lernen im Leben könne besser organisiert werden, durch Bildungsgutscheine und durch Lernbörsen, in denen Menschen, die etwas wissen, von Menschen angefragt werden können, die etwas wissen wollen. Das passt zum Situationsansatz.

Ivan Illich verweist in einem damals veröffentlichten "Spiegel"-Interview auf seinen Freund Paulo Freire, der im Sertão, im verarmten Nordosten Brasiliens, in einer Massenbewegung Erwachsene alphabetisiere und der autoritären Regierung gefährlich werde. Zur Wahl konnte damals nur gehen, wer Lesen und Schreiben beherrschte. Arme aber, die – so Freire – handelnd in die Geschichte eintreten, wollen eine offene und keine geschlossene Gesellschaft, keine, die sie ins Abseits drängt. Freires Alphabetisatoren ziehen in die Dörfer, ermitteln im Dialog mit den Menschen die Schlüsselsituationen und verbinden Reflexion mit Aktion. Das ist Situationsansatz pur.

Und so kommt es, dass Ivan Illich mit der "Entschulung der Gesellschaft" und Paulo Freire mit seiner "Pädagogik der Unterdrückten" zu den ideengeschichtlichen Paten des Situationsansatzes gehören. Mehr als drei Jahrzehnte später werden ihre Veröffentlichungen in einer Umfrage unter den Mitgliedern der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft zu den zehn wichtigsten pädagogischen Büchern des 20. Jahrhunderts gezählt. Wer hätte das gedacht.

In Rheinland-Pfalz und Hessen, 1972

Dem Angriff der Schulpädagogen auf den Kindergarten mit dem Streit um die Fünfjährigen begegnen Erzieherinnen aus Modellkindergärten zusammen mit uns, der Arbeitsgruppe Vorschulerziehung des Deutschen Jugendinstituts, indem sie sich auf ihre eigenen Kompetenzen besinnen. Das Robinsohn'sche Strukturkonzept wird als Situationsansatz vom Kopf auf die Füße gestellt. Situationen von Kindern werden zum Ausgangspunkt des pädagogischen Geschehens. Das Curriculum 'Soziales Lernen' wird entwickelt. Die Texte der didaktischen Einheiten zu 28 Schlüsselsituationen bestehen überwiegend aus Originalaussagen der beteiligten Erzieherinnen, Eltern und Kinder. Der Situationsansatz überwindet die Schranken pädagogischer Einrichtungen. "Kinder im Krankenhaus": Kindern die Angst nehmen? Ja. Mit Schwestern zusammen die Spielsachen auf Kinderstationen reorganisieren? Ja. Kommunalpolitiker im Wahlkampf fragen, wann die Besuchszeiten in Krankenhäusern endlich erweitert werden? Ja. Wir lernen, dass es nicht nur um die Befähigung von Kindern, sondern auch um die bessere Gestaltung von Situationen geht.

Philippinen, 1986

Kinder, die oben auf dem riesigen Müllberg Manilas, dem Smokey Mountain, verwertbare Teile aus Plastik oder Metall sammeln und verkaufen, werden von Zwischenhändlern übers Ohr gehauen. "Cheated by middlemen" heißt dort die Schlüsselsituation, und beantwortet wird sie mit der Gründung einer kleinen Productive Community School, die sich auf die Reparatur ausgebrannter Neonröhren versteht. Die Zwischenhändler bleiben außen vor. Stattdessen rückt das Thema Entrepreneurship ins Blickfeld: Kinder der Ärmsten gehen nicht zur Schule, weil sie davon nicht satt werden. Als heißt es, "learning & earning" zu verbinden.

Ghana, 1995

Eine didaktische Einheit des Curriculum Soziales Lernen hat den Titel "Verlaufen in der Stadt". In Ghana heißt sie "Verlaufen im Busch": Zurück zu seinen Eltern findet das Kind durch eine Variation von Schreien. Und die reichen vom eher lockeren Klang à la "hallo, wo seid ihr" bis zum spitzen Schrei à la "Schlange beißt gleich". Der Situationsansatz will immer wieder neu erfunden werden.

In den neuen Bundesländern 1998

Die Ergebnisse einer umfänglichen externen empirischen Evaluation des Situationsansatzes liegen vor. Das Kind, so die Landauer Forschungsgruppe, das eigenaktiv, selbständig und konsequent den einmal eingeschlagenen Weg verfolge, das Kind, das aktiv und auf anregende Weise seine Themen vorantreibe, das Kind, das Konflikte regele, ohne am Rockschoß der Erzieherin zu hängen, sei in Einrichtungen, die nach dem Situationsansatz arbeiten, deutlich stärker vertreten als in Einrichtungen, die das nicht tun.

Thailand, 2003 und 2005

Zwei Schools for Life werden gegründet, die eine startet mit Aids-Waisen in der Nähe von Chiang Mai, die andere mit Tsunami-Waisen in der Region von Khao Lak. Ihr Konzept: Situationsansatz plus Entrepreneurship Education plus Entschulung der Schule. "The best for the poorest."

China 2011

In Peking wird die Carl Benz Academy aus der Taufe gehoben. Ziel ist die Weiterbildung chinesischer Manager von Mercedes-Benz. Grundlage ist der Situationsansatz. Ein guter Manager ist nicht nur einer, der Autos verkaufen kann, sondern – sozial und ökologisch verantwortlich – über den Tellerrand blickt. Hier verbindet sich der Situationsansatz mit Elementen einer Theorie vom 'intelligenten Schwarm'. Menschen, aus drei Kontinenten entwickeln die Akademie nach dem Motto 'keiner kennt die Lösung, und alle erfinden sie gemeinsam'.

Berlin 2012

Die Internationale Akademie an der Freien Universität Berlin ist in Sachen Situationsansatz weit mehr als nur ein Fähnlein der sieben Aufrechten. Mehrere Institute unter dem Dach der INA, voran das Institut für den Situationsansatz, leisten Beiträge zur Weiterentwicklung des Konzepts und seiner Praxis.

Die Zukunft des Situationsansatzes? Noch einmal Ivan Illich: Das wirksamste Lernen geschieht nicht durch Unterweisung, sondern durch die ungehinderte Teilhabe an relevanter Umgebung. So ist es; der Situationsansatz öffnet Türen.

"Die Erfindung des Situationsansatzes."

Quelle: Welt des Kindes, H.2,
2012, S.10-13