Messer, Schere, Säge

Die Erziehung der deutschen Drei bis Fünfjährigen soll einen neuen Inhalt bekommen. Der Bildungsrat will weder herkömmlichen Kindergarten noch vorverlegte Schule.

Mindestens ein Farbfernseher für 2500 Mark und möglichst ein tragbarer Videorecorder für 6000 Mark sind für jeden Kindergarten vorgesehen. Und auch das Personal für jeweils 60 Kinder ist kostspielig: neun Erwachsene, davon sechs Praktiker (vier Kindergärtnerinnen, ein Lehrer, eine Jugendleiterin) und drei Wissenschaftler (Pädagogen. Psychologen, Soziologen).

So sollen 100 bis 120 Modell-Kindergärten ausgestattet werden, deren baldige Einrichtung die Bildungskommission des Deutschen Bildungsrates am vergangenen Wochenende den Regierungen in Bund und Ländern vorschlug.

Notwendig scheint den Rats-Herren der hohe Aufwand (insgesamt bis 1977 zwischen 118 und 154 Millionen Mark), um der deutschen Vorschulerziehung für die Drei- bis Fünfjährigen Ziel und Inhalt zu geben. Gegenwärtig krankt sie daran, "daß keiner wirklich weiß, was Vorschulerziehung eigentlich sein soll. So sieht es Jürgen Zimmer, der in München die Arbeitsgruppe Vorschulerziehung im Deutschen Jugendinstitut leitet und einer der Hauptautoren der "Empfehlungen" des Bildungsrates ist. Seine Arbeitsgruppe beteiligt sich an Modell-Kindergärten in Hessen (darunter in Frankfurt) und in Rheinland-Pfalz.

Es geschieht zwar überall in der Bundesrepublik ungemein viel: In allen größeren Orten gibt es Eltern-Initiativen, die der gemeinsamen Kindererziehung gewidmet sind. In Kindergärten ist man um neue Methoden bemüht. In Kinderläden wird versucht, bürgerliche Kinder mit proletarischem Bewußtsein zu erfüllen. In jedem Bundesland gibt es offizielle Modellversuche. Buch- und Spielzeughandlungen werden überschwemmt mit Spielen und anderen Materialien, die der Vorschulerziehung im Kindergarten und -- vor allem -- zu Hause dienen sollen.

Aber vieles läuft ins Leere oder in die falsche Richtung.

Das frühe Lesenlernen zum Beispiel, das vor einigen Jahren Tausende deutsche Mütter berauschte, ist wissenschaftlich auf seinen Wert untersucht worden. Ergebnis: Zwar können Kinder zwischen drei und fünf Jahren tatsächlich das Lesen lernen, aber weitergehende Hoffnungen erwiesen sich als "entschieden übertrieben, weitgehend

Wissenschaftlich betreut von der Arbeitsgruppe Vorschulerziehung des Deutschen Jugendinstituts.

sogar falsch", wie Mitarbeiter Zimmers analysierten.

Was einschlägige Firmen für die Vorschulerziehung auf den Markt bringen, sind laut Zimmer "zum großen Teil quasididaktische Materialien, die im großen Durchschnitt an der unteren Qualitätsgrenze liegen". Weil Eltern, die ihre Kinder nichts versäumen lassen wollen, oft ratlos sind und weil es Wissenschaftlern wie Praktikern an Konzepten fehlt, wird die Vorschulerziehung zur Zeit mehr durch das kommerzielle Angebot als durch Erkenntnisse der Pädagogen und durch Erfahrungen aus Modeliversuchen bestimmt.

Je weniger aber Eltern und andere Erzieher sich orientieren können, um so größer ist die Gefahr, daß mangels anderer Einfälle die Grundschule gleichsam vorverlegt wird. Zimmer: "Das ist das Schlimmste, was passieren kann."

Daß die Vorschulerziehung künftig weder als Kindergarten im alten Stil noch als vorverlegte Schule betrieben wird, ist das Hauptziel der Empfehlungen des Bildungsrates. Kernpunkt ist der Vorschlag, "von den realen Lebenssituationen der Kinder auszugehen und durch gezielte Förderung die Kinder instand zu setzen, ihre Lebenssituationen zu beeinflussen und zunehmend selbständiger zu bewältigen".

Gedacht ist an Exkursionen in die Welt der Erwachsenen, etwa in Krankenhäuser, an die Arbeitsstätten der Väter oder in den Turnverein, und an Rollenspiele. Eines von vielen: Einige Kinder führen stumm eine Handlung vor, die anderen beschreiben sie in Worten. Auch können Konflikte im Kindergarten auf Band genommen, gemeinsam angehört und im Rollenspiel verarbeitet werden.

Was die Familie betrifft, so geht es bei den Lebenssituationen -- wie die Autoren erläutern -- "um die sachgerechte Bewältigung der Situationen Essen, Trinken, Schlafengehen, Aufstehen, An- und Auskleiden, um die Benutzung von Handwerkszeug und technischem Gerät (Hammer, Zange, Messer, Schere, Säge, Wasserleitung, Herd und Ofen, Kühlschrank und Telefon), um· den Gebrauch von Fernseher, Rundfunkgerät und Plattenspieler".

Zugleich aber soll die Vorschulerziehung auch Themen einbeziehen wie den "Umgang mit anderen Hausbewohnern und mit Gästen und das Verarbeiten von Schwierigkeiten "der Erwachsenen (Geldsorgen, Streit der Eltern, Ärger im Beruf)".

Erfahrungen mit solch lebensnaher Erziehung wurden in Ansätzen an der Berliner Kennedy-Vorschule schon gesammelt. Was aber dort einer Elite vorbehalten ist, soll in jedem Modell-Kindergarten allen Kindern des jeweiligen Bezirks zuteil werden. Ausdrücklich ist vorgesehen, daß ihn ausnahmslos alle Drei- bis Fünfjährigen im Einzugsbereich besuchen können.

Geht es nach dem Programm des Bildungsrates, dann werden die Erfahrungen aus den Modell-Kindergärten schon in zehn Jahren Allgemeingut aller Kindergärten und Vorschuleinrichtungen sein. Ob die Empfehlungen tatsächlich verwirklicht werden, ist einstweilen allerdings noch unsicher. Kritik und Widerstand sind von mehreren Seiten zu befürchten.

Zwar verwerfen die Empfehlungen manche liebgewordene progressive Ansicht, etwa die, daß Frustrationen grundsätzlich vermieden werden sollten. Empfohlen wird auch, die schematische Zweiteilung in Unter- und Mittelschicht "aufzugeben zugunsten einer differenzierteren Aufgliederung".

Aber argwöhnischer werden Konservative die Konsequenzen bedenken, die sich aus lebensnaher Vorschulerziehung ergeben sollen. Prognose der Autoren: "Die Kinder werden an Konfliktsituationen erkennen, daß diejenigen, die gleiche Interessen vertreten, eher zum Erfolg kommen werden, wenn sie gemeinsam handeln, als wenn sie einzeln handeln."

Demnächst entscheiden die Kultusminister darüber, ob sie diesen Solidaritäts-Geist mit Geld aus ihren Etats fördern sollen. Erste massive Bedenken hatten in einer internen Sitzung der bayrische Kultusminister Hans Maier und sein rheinland-pfälzischer CDU-Kollege Bernhard Vogel vorgebracht.

Erfahrene Pädagogen rechnen damit, daß sich Kultusminister nicht anders verhalten als Kinder. Und darüber steht in den Empfehlungen: "Ein gewisses Maß konservativer Reaktion auf neue, unbekannte Erwartungen ist sicherlich normal.

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DER SPIEGEL 19/1973
07.05.1973
KINDER / Messer, Schere, Säge