Jürgen Zimmer

Der Ruf des Käuzchens: Haro Senft

Eins zu wie viel

Mal angenommen, Haro Senft wäre vor Zeiten in die Fernsehsendung über das heitere Beruferaten eingeladen worden, nicht um eine charakteristische Handbewegung vorzuführen, sondern um einen treffenden Satz zu sagen, dann, denke ich, hätte er sagen können: "eins zu zwölf".

"Eins zu zwölf" zu drehen, war der praktisch ein nie erreichter Traum des Filmemachers Haro. Mit seinen Auftraggebern haderte er um "eins zu vier", und wenn es freundliche Redakteure der "Rappelkiste" des ZDF waren, die ansonsten Freiräume ließen, waren sie immer noch erträglicher als zum Beispiel ein Referent des Instituts für Film und Bild in Wissenschaft und Unterricht (FWU), der fand, ein Filmemacher sei didaktisch unterbelichtet und mithin, was die Gestaltung von Filmsequenzen anbelangte, an die kurze Leine zu nehmen. Da kommt es dann zum Gewürge und Gezerre, und es wird deutlich, warum wir Schüler beim Betrachten eines FWU-Films über die Amöbe im abgedunkelten Klassenzimmer lieber von den noch verbotenen Freuden des Lebens träumten.

Ich weiß nicht, wie viele Stunden Material Biljana Garvanlieva, Frau meines Sohnes Manuel, im Kasten hatte, als sie sich zusammen mit der Cutterin an den Schnitt ihres später mit dem Deutschen Kurzfilmpreis gekrönten Halbstundenfilms "Die Akkordeonspielerin" machte, aber ich weiß, dass sie für ihren neuen Halbstundenfilm "Polly on the Rocks" um die 35 Stunden abgedreht hat, und ich kann mir vorstellen, dass sie bei der Fülle des Materials Schwierigkeiten hatte, den Wald vor lauter Bäumen zu sehen, während Haros Haushalten mit der Knappheit zu einer anderen Art der Verzweiflung führte.

Von innen nach außen

Man kann sich den Mainstream der Entwicklungspsychologen der letzten 100 Jahre wie einen Club verständnissuchender Damen und Herren vorstellen, die, mit einem Vergrößerungsglas bewaffnet, das Kind von außen beäugen und es aus ihrem Horizont heraus, dem der Erwachsenen, zu interpretieren suchen. Da gibt es dann diese oder jene Phasen der kindlichen Entwicklung und diese oder jene Ratschläge, wie man Funktionen eines solchen Kindes fördern könne. Ob diese Von-außen-Betrachter nun mittels eines Hörrohrs meinen, schon in der pränatalen Phase das musikalische Vermögen eines Embryos aufspüren und zur Förderung durch ein Bach'sches Adagio freigeben zu können, ob sie empfehlen, das Kind dann oder dann zu 'topfen', ob sie eine Trotzphase oder ein unsicheres Bindungsverhalten diagnostizieren, sie schauen auf das Kind, meist von oben herab, und das Objekt vor ihnen benimmt sich oft wie ein Projektionsschirm. War mein Verwandter William Thierry Preyer ("Die Seele des Kindes", 1882) – von dem in der Familie erzählt wurde, er habe seinem Sohn, der gerade mal bei der Geburt den Kopf herausstreckte, den Finger in den Mund gesteckt, um herauszufinden, ob der Saugreflex angeboren sei – eine Ausnahme? Nein.

Aber Daniel Stern. Er ist der entwicklungspsychologische Nachfolger des Kinderfilm-Avantgardisten Haro Senft, ohne dass die beiden eine Ahnung voneinander hätten. Stern nahm – im Bild gesprochen – die Kamera, kletterte in den Säugling hinein und filmte, nun mit dem Blick des Säuglings, von innen nach außen. Ein zunächst wirres, konturloses, unscharfes Ineinander von Farben und Bewegungen. Eine geheimnisvolle Welt und ein rat- und tatenloses Kind? Sterns Kleinkind ist der größte Experimentator seines ganzen späteren Lebens. Es probiert und macht und tut und wiederholt und variiert und lernt im Zick und im Zack und lernt nicht nur, sondern verwandelt die nahe Welt, ist ein Eroberer mit grenzenloser Neugier, nicht von außen, sondern von innen getrieben.

Alles bestens? Von wegen. Denn nun treten die domestizierenden Erwachsenen auf und trimmen das Kind. Die Entdeckungsgefahren des wilden Eroberers enden in gesitteten Lernprogrammen. Die Kindheit mit dem langen Marsch durch die pädagogischen Institutionen beginnt. Es ist noch nicht lange her, dass die Kindheitsforscher eine Eigenschaft bei Kindern diagnostizierten, die scheinbar neu, in Wahrheit wohl aber uralt ist: die Resilienz. Es ist die Widerstandskraft eines Kindes, die es eigentlich gar nicht geben sollte. Pointiert ausgedrückt: die Fähigkeit, selbst die abwegigsten Erziehungsversuche und Verhaltensweisen von Erwachsenen irgendwie zu überstehen. Das Kind als Entdecker, Experimentator, Guerillero und Geheimnisträger.

Damit sind wir beim Avantgardisten Haro Senft angekommen, dem Mann, der Daniel Stern zwanzig Jahre voraus war.

Haro vor dem Zaun

Eine Szene auf einer freien Fläche in einer Vorstadtsiedlung Münchens: Ein Junge zwirbelt am Propeller seines gummigetriebenen kleinen Flugzeugs. Das Flugzeug steigt auf und landet hinter dem Zaun in einem Garten. Dort steht eine kleine Hütte. In ihr werkelt ein alter Mann. Das weiß der Junge aber noch nicht. Er weiß es weder in Wirklichkeit, noch im Film. Dass der Flieger hinter dem Zaun landet, ist dem Filmteam vor dem Zaun auch bei einem Drehverhältnis von eins zu vier gelungen. Der Junge versucht nun, seinem Flieger nachzuspüren. Er kommt in den Garten. Er sieht den alten Mann. Der sieht ihn auch. Der alte Mann hat von Haro nur mitgeteilt bekommen, dass etwas geschehe und er sich einfach darauf einlassen möge.

Der alte Mann ist über den Jungen überrascht und der Junge über den Alten. Alles, was nun geschieht, steht in keinem Drehbuch, sondern entwickelt sich aus der Situation heraus. Der Junge ist interessiert, was der Alte so macht, es gibt viel zu sehen und anzufassen. Der Alte hat Schwierigkeiten, den Flieger mit einer Stange vom Baum herunterzuholen. Als sich beide gerade anzufreunden beginnen, kommt – im Film so unerwartet wie in der Wirklichkeit dieses Drehtags – ein zweiter Mann zu Besuch, ein Grantler vor dem Herrn, der den Jungen zurechtzuweisen versucht und sich doch nur dessen rotzfreche Antworten einhandelt. Auch nicht zu erfinden ist eine Szene, in der der Junge eine Walnuss aufzuknacken versucht und der freundliche Alte mit der Bemerkung "host koa Schmoiz net" die Nuss und den Nussknacker wegnimmt, um es dann auch nicht zu schaffen.

"Hinter dem Zaun", von Haro Senft 1974 als Kurzfilm gedreht, ist ein verschollener Klassiker des deutschen Films mit Kindern, für Kinder und für Erwachsene, die sich an den nicht präfabrizierten Pointen des Geschehens erfreuen. Haro provoziert Situationen von Kindern und mit Kindern und spürt dann den Ereignissen nach, die sich daraus ergeben. Das schützt ihn vor gestelztem Laienschauspiel. Seine Personen dilettieren nicht nach Textvorgaben, sondern reden und handeln aus sich heraus.

Damit ist er ein Paradebeispiel für die filmische Umsetzung des Situationsansatzes. Was das ist? Die wissenschaftlich begleitete und gestärkte Gegenwehr der Erzieherinnen. Ende der sechziger Jahre waren sie im Westen samt ihren Kindergärten von Schulpädagogen angegriffen und in die Ecke gedrängt worden. Sie seien Glucken, die über ihren Kindern hockten und sie unterforderten. Deswegen müsse man ihnen die Fünfjährigen wegnehmen und der Schule zuordnen. Darüber entstand der Streit um die Fünfjährigen, und als wir – damals als Arbeitsgruppe Vorschulerziehung des Deutschen Jugendinstituts – Erzieherinnen in Rheinland-Pfalz und Hessen fragten, wofür sie sich kompetent fühlten, antworteten sie: für die Lebenssituationen ihrer Kinder. Da hatten wir es: Lernen in und durch Lebenssituationen und nicht Drill nach dem Muster einer von Aufgaben geplagten Ratte im Skinner'schen Labyrinth mit Futter zur Belohnung und einem Stromschlag zur Strafe. Der Situationsansatz wurde entwickelt und verbreitete sich über die Jahre in vielen Kindergärten im Westen wie im Osten. Als er in den neunziger Jahren extern evaluiert wurde, zeigte sich, dass die Kinder des Situationsansatzes Daniel Stern und Haro Senft wahrscheinlich gern als Paten gehabt hätten: Sie sind autonomer, hängen weniger am Rockschoß, regeln ihre Angelegenheiten eher untereinander, sind neugierig, müssen nicht geschoben werden und suchen sich ihre Themen selbst.

Mondtag

Mein zweiter Lieblingsfilm von Haro Senft heißt "Mondtag". Die Rolle des Zauns übernimmt hier ein altes, prächtiges, kleines Karussell in Münchens Englischem Garten. Wenn sich ein Kind auf eines der hölzernen Pferde setzt und das Karussell Fahrt aufnimmt, dann wird der Blick des Kindes weit und richtet sich irgendwohin in die Ferne.

"Mondtag" beginnt mit einem Streit zwischen zwei Erwachsenen hinter einer Wohnungstür. Man hört ihn nur. Die Tür öffnet sich, ein Junge kommt heraus, die Tür wird zugeschlagen. Der Junge ist verstört, läuft die Straße entlang in den Park. Er klettert auf eines der Pferde. Das Karussell setzt sich in Bewegung. Ein Traum beginnt, ein Traum voller Geheimnisse und seltsamer Begegnungen. Für einen kurzen Moment taucht zwischen hohem Gras im Halbdunkel eine wunderschöne Fee auf. In Wirklichkeit heißt sie Dorothee Zippel, war die damalige große Liebe von Haro, war Tänzerin in "Hair", Tänzerin und Bühnenbildnerin bei John Cranko in Stuttgart, und ich war immer der Meinung, dass es ein besseres Paar eigentlich nicht geben könne, bis Dorothee andere Wege einschlug, nach Puna ging und dort in den inneren Kreis Bhagwans geriet.

So ändern sich die Zeiten, aber jedesmal, wenn ich "Mondtag" sehe, kommen die Erinnerungen an die frühen siebziger Jahre, an Dschingis, mit dem Hark Bohm seinen ersten Film "Tschetan der Indianerjunge" drehte, und der mit meinen Kindern zusammen in die Freie Private Grundschule in München ging, an das Ursprungstal der Isar, weil es sich in Harks Film in eine Indianerlandschaft verwandelt hatte. In diesem Tal wachsen seltsame Pflanzen, fliegen Libellen und Schmetterlinge, aber es ist mir nie gelungen, was dem Jungen in "Mondtag" glückte: Er pflückt eine Blume, auf die sich just in diesem Augenblick ein Schmetterling niederlässt. Die Blume wird geschüttelt, aber der Schmetterling bleibt und bleibt. Als ich Haro einmal gefragt habe, welche Bewandtnis es mit dem Schmetterling habe, sagte er, das gehöre zu den Geheimnissen, von denen dieser Film handelt.

Wie in Haro Senfts Film "Ein Tag mit dem Wind" entkommt der Junge in "Mondtag" einer unfreundlichen Realität und kehrt doch wieder in sie zurück. Die guten Geister, denen das Kind in "Ein Tag mit dem Wind" begegnet, sind freundliche und zugleich merkwürdige, im besseren Abseits lebende Menschen, Landkommunarden; und nur, wenn die Kamera die monströs wirkenden Morphologien einiger Andechs-Besucher einfängt, oder wenn tief gekühlt wirkende Hochhausfassaden in den Blick geraten, wird deutlich, dass Haros Paradiese auf Erden an ihre Grenzen stoßen.

Im Film "Sonnentage" dem dritten meiner Lieblingsfilme von Haro Senft, kommen Erwachsene gar nicht mehr vor. Zwei Kinder, ein Junge und ein Mädchen, schaffen sich irgendwo draußen ihr eigenes Reich und erleben ihr eigenes Glück. Wiederum 'spielen' sie nicht vor der Kamera, sondern sind sie selbst, und kein Drehbuchautor könnte auch nur annähernd die Ausrufe, Gespräche, Wortfetzen erfinden, die den Dialog dieser Kinder prägen.

Dort, wo Erwachsene außen vor bleiben, umgeben Geräusche und Erscheinungen die Erkundungen der Kinder: das Wasser, in dem sich die Fee spiegelt, der Ruf des Käuzchens, das hohe Gras, ein Papagei auf dem Baum, das Hämmern des Spechts, der Mond, Nebel, ein Bratapfel über der Glut. Und wir Betrachter sehen und hören mehr als in aktionsgetriebenen Filmen, und ich erinnere mich, wie verdammt lange es her ist, dass ich mich mit Muße auf die kleinen Dinge einließ und Kaulquappen aus dem kleinen Ried am Rande Wasserburgs holte, sie im großen Einmachglas zusammen mit auf- und absteigenden Wasserkäfern großzog, später als kleine Frösche im Wiesenbach dicht am Ufer des Bodensees aussetzte und fest daran glaubte, dass alles Gequake im Sommer von meinen Fröschen ausging.

Um Ulm herum

Es war zu Zeiten der Studentenbewegung, als die Kommilitonen der Ulmer Hochschule für Gestaltung begannen, an den Stühlen der Gründer zu sägen. Als der Streit eskalierte und ich von den Studenten gebeten wurde, dorthin zu kommen und ein anderes Curriculum mitzuentwickeln, fand ich eine Einrichtung ohne Dozenten vor. Ich weiß nicht mehr, wo sie gerade waren. Auch in der Filmabteilung rührte sich nichts. Jemand erklärte, lebendig würde es dort dann, wenn Regierungsinspektoren oder Geldgeber zu Besuch kämen. Ich kannte Otl Aicher und Inge Aicher-Scholl, ich bewunderte die Gründung der Ulmer Hochschule und ich verstand nicht wirklich, worüber gestritten wurde. Jeder Versuch einer Schlichtung konnte letztendlich nicht verhindern, dass die Hochschule nicht lange danach ihre Unabhängigkeit verlor und von der Bildfläche verschwand. Verhandlungsführer der Studenten war Achim Heimbucher, der später in meinem Arbeitsbereich ans Deutsche Jugendinstitut in München kam und dort, zusammen mit René Bendit, das beste Buch über den großen brasilianischen Pädagogen Paulo Freire schrieb, jenen Freire, über den der vom Alkohol schon gezeichnete Hans Rolf Strobel unter produktionstechnisch schwierigen Bedingungen einen Film drehte, "Schritte ins Reich der Freiheit" – für mich der eindrücklichste Film über Freires Alphabetisierungskampagnen, diesmal im peruanischen Hochland, mit einer Sprecherin, deren Stimme man alles glaubte, der Stimme von Hanna Schygulla.

Auch Renate Saumweber, die Sekretärin von Inge Aicher-Scholl an der Ulmer Volkshochschule und Kennerin der Filmemacher und Autoren des Oberhausener Manifests, wechselte zu uns nach München. Und wir, die Arbeitsgruppe Vorschulerziehung, waren dabei, mit jenen Erzieherinnen in Rheinland-Pfalz und Hessen ein offenes, erfahrungsreiches, durch den Situationsansatz geprägtes Curriculum "Soziales Lernen" zu entwickeln. Da sollten Filme für Kinder nicht fehlen. Haro Senft, Edgar Reitz, Werner Herzog, Hans Rolf Strobel, Heinrich Tichawsky und andere drehten kurze Filme zu Schlüsselsituationen von Kindern, und als wir die "Sonnentage" als Super-8-Tonfilm vorführten, mischte sich das ratternde Geräusch des Projektors mit den Klängen des Richard W. Palmer-James von den "Supertramp", der zu Haros Filmen damals die Musik beisteuerte.

Das Netzwerk

Als Australien seinen 200. Geburtstag feierte und eine deutsche Gruppe vom Goethe-Institut eingeladen war, dort an einer Konferenz zum Thema "Cultural Crossways" teilzunehmen, trafen wir uns in ungewohnter Zusammensetzung. Mit dabei waren Ula Stöckl, die Ulmer Filmemacherin, deren "Geschichten vom Kübelkind" ich Jahrzehnte später noch einmal im Berliner Arsenal-Kino bewunderte. Hilmar Hoffmann war mitgekommen, der ideenreiche Frankfurter Kulturstadtrat und Partner im Geiste des Nürnberger Kollegen Herman Glaser, der seine Sachbücher bevorzugt während langweiliger Stadtratssitzungen zu schreiben beliebte und eine gar nicht langweilige, auf den Einfallsreichtum der Stadtteile setzende Kulturpolitik betrieb. Als Hermann Glaser und ich später die Schnapsidee umzusetzen versuchten, um die 150 brasilianische Künstler, Volksmediziner, Candomblé-Anhänger, Vertreter von Basisgruppen und Musiker nach Deutschland zu holen und sie mit entsprechenden Gruppen in mehreren deutschen Städten zusammenzubringen, gelang das – in kleinerem Rahmen – auch irgendwie, und als ich bei Vorrecherchen in Brasilien auf Djalma Correa, einen Doyen der brasilianischen Percussionisten traf, wusste ich noch nicht, dass ich ihn später in einem Dokumentarfilm von Rainer Schmitt und Haro Senft wiedersehen sollte, den die beiden über das "International Ethnic Percussion Project" des österreichischen Percussionisten Reinhart Flatischler gedreht hatten. Hätte Haro wiederum gewusst, dass meine Frau Birzana mit Djalma Correa einen improvisierten, nicht nur für beide ungewöhnlichen Workshop veranstaltete – Birzana als balinesische und javanische Tänzerin mit sanften, schwebenden Bewegungen, und er mit harten brasilianischen Rhythmen dagegen haltend, wenn Haro gesehen hätte, wie sich tänzerische und musikalische Brücken über weite Distanzen schlagen lassen, hätte er nur die Kamera zu nehmen brauchen, und schon hätte er einen zweiten interethnischen Film im Kasten gehabt.

Aber das Schicksal von Dokumentarfilmern ist eben, dass sie oft nicht da sind, wenn gerade etwas Spannendes passiert. Rolf Schübel hat von den Dreharbeiten zu seinem Film "Bier für Lama Kara" erzählt: Das Team sitzt im Auto, fährt in Afrika eine Straße entlang, etwas ganz Aufregendes geschieht am Straßenrand, der Wagen wendet, und als die Stelle wieder erreicht wird, ist die Szene vorbei.

Zur deutschen Gruppe in australischer weiter Ferne gehörte auch Horst Eberhard Richter, dessen Bücher für mich in der Tradition bester Aufklärung stehen, und Volker Elis Pilgrim, den damals das Thema 'Mütter von Diktatoren' umtrieb, und der uns über Evchen erzählte, jener blonden Versuchung, die sich bei Adornos Vorlesungen immer in die erste Reihe setzte. Hilmar Hoffmann war nervös in jenen Tagen, weil daheim in Frankfurt die Premiere eines Theaterstücks von Faßbinder anstand und Hoffmann fürchtete, man würde dem Stück antisemitische Tendenzen vorwerfen und einen Skandal erleben.

Hilmar Hoffmann war derjenige, der die westdeutschen Kurzfilme in Oberhausen auf den Weg brachte. Und dort, 1962, wurde das Oberhausener Manifest "Papas Kino ist tot" verlesen, initiiert von Haro Senft und von 26 Filmemachern unterzeichnet. Hans Rolf Strobel und Heinrich Tichawsky waren mit dabei, deren Kurzfilm "Notizen aus dem Altmühltal" mit den Vorfilmschmonzetten aufräumte, die wir jungen Kinobesucher zwischen "Fox tönende Wochenschau" und deutschen Papa-Filmen überstehen mussten.

Es war wie ein Karussell, auf dem wir alle saßen. Irgendwie hatten alle mit allen etwas zu tun: Hilmar Hoffman, der in Australien von den Oberhauser Zeiten erzählte, mit Ula Stöckl, die heute an einer Universität im Süden der USA ihren Studenten die europäische Filmgeschichte zu vermitteln sucht und irgendwann nach Deutschland zurückkehren will, Dietlind Karsunke mit ihrem wunderschönen Kinderbüchern, deren Sohn Benni mit meinem Sohn Manuel auf dem Steg an einem österreichischen See angelte und einer – war es Benni, war es Manuel? – die Angel so auswarf, dass der Haken samt Wurm in der gerade herausgestreckten Zunge des anderen Anglers hängen blieb; Dorothee Zippel, die einen Comic über den "Situationsansatz einer Schnecke" zeichnete, Bärbel Lutz-Saal, die der "Rappelkiste" und dem Situationsansatz in der "Rappelkiste" Raum verschaffte und doch nicht verhindern konnte, dass die alberne Parallelsendung "Kli-Kla-Klawitter" ausgestrahlt wurde und Ernie und Bert im Sesamstraßenbandwurm das immer gleiche Lernprogramm vorführten. Uwe Bohm, Heimkind und Schauspieler, Adoptivsohn von Hark und Natalia, kennt Isabelle, meine Tochter, und die ging mit Nastassja Kinski in dieselbe Schule. Werner Herzog nimmt für seinen Kinderfilm "Mit mir will niemand spielen" einen verwahrlosten, alleingelassenen Jungen im Kindergarten-Alter, der über seinen Raben eine kleine Freundin findet und nicht mehr nur Chips essen muss.

Eigentlich hätten wir auf immer und ewig in den frühen siebziger Jahren bleiben sollen, wie eine vor der kommenden Pest geflohene Truppe des Dekamerone, die sich Geschichten erzählt, Filme dreht, malt, sich an der Bildungsreform versucht oder am Chinesischen Turm im Englischen Garten sitzt und wartet, bis ein in Orange gekleideter Bhagwananhänger kommt, den ich als ehemaligen Salemer Schüler und späteren Bremer Unternehmer wiedererkenne, und der mir auf meine Frage, wo man zwei Wochen Urlaub an einem möglichst exotischen Ort machen könne, der nicht so weit weg sei wie Bali, antwortet, da gäbe es nur einen Ort, das Hotel La Mamounia in Marrakesch. Es stimmte.

Haro Senft – 1928 in Budweis geboren, mit einem von schönem Haupthaar und Bart umkränzten Gesicht eines böhmischen Gurus der feinsten Art – und ich hatten einen Plan: Wir wollten nachts mit einer sensiblen Kamera in Transsylvanien Vampire filmen, und weil es wie in "Hinter dem Zaun" oder in "Mondtag" Geheimnisse gibt, die nicht inszeniert werden können, sondern von alleine auftauchen, waren wir gewiss, dass ein entwickelter transsylvanischer Film nicht nur die Schwärze der Nacht zeigen würde. Ich hatte damals die Protokolle jener ärztlichen Kommission aus Preußen gelesen, die sich zur Zeit Friedrich des Großen nach Transsylvanien begab, um dem Aberglauben die Erkenntnisse der Wissenschaft entgegenzusetzen, und deren Mutmaßungen darüber, wie es kommen könnte, dass Untote ihre Leintücher verschlingen, zu abwegigen Ergebnissen führten, so dass mir die Theorien eines Professors van Helsing, alias Peter Cushing aus der legendären Hammer Film Produktion, weitaus sympathischer waren.

Wir sind nie nach Transsylvanien gefahren und haben auch nie die Expedition Alfred Wegeners in Spitzbergen mit gleicher Ausrüstung nachvollzogen, was ja schön gewesen wäre, um der brütenden Hitze des Münchener Sommers zu entkommen.

Der Brief

Am 9. August 2011 schrieb Dieter Kosslick von den Internationalen Filmfestspielen Berlin einen Brief nach München:

Lieber Haro Senft,

unsere letzte persönliche Begegnung liegt nun zwar schon ein paar Jahre (oder Jahrzehnte) zurück, ich denke aber immer noch gerne an die Abende in der Münchner Wohnung unterm Dach zurück. Ich hoffe, es geht Dir gut und Du siehst dem 50. Jahrestag der Verkündung des Oberhausener Manifests im Februar 2012 mit guter Laune entgegen.

Aus genau diesem Anlass möchten wir Dich, als Seele, Kopf und Herz der ganzen Oberhausener Bewegung, bei der Berlinale 2012 gerne mit der Verleihung der Berlinale Kamera ehren. Es handelt sich um eine Auszeichnung für Persönlichkeiten und Institutionen, denen sich die Berlinale auf besondere Weise verbunden fühlt. Also genau die richtige Würdigung Deines vielfältigen Einsatzes für das unabhängige Kino und nicht zuletzt Deines Engagements für das junge Publikum.

Bei der Verleihung soll dann einer Deiner Filme gezeigt werden, hier wären wir sehr an einem Vorschlag von Deiner Seite interessiert.

Ich würde mich sehr freuen, wenn diese Idee Dich interessiert und Du Dich bald bei uns meldest.

Mit herzlichen Grüßen
Dein
gez.: Dieter Kosslick

Haro schrieb mir, dass ihn das sehr freue und es mit der Übergabe der Kamera schon irgendwie zu machen sei, er aber selbst nicht teilnehmen könne. Da dachte ich: Widerfährt ihm, den ich seit jenen Jahren nicht mehr gesehen habe und als einen überzeitlichen Haro erinnere, was uns allen geschehen kann, wenn wir achtzig und mehr Jahre erreichen: dass ein wacher Geist mit einem zunehmen klapprigen Körper nicht mehr ganz eins ist? Sollte ich ihn fragen, ob das der Grund ist? Nein, ich will's gar nicht wissen. Es gibt ein ideales Alter, das in uns bleibt, egal, wie weit unsere Physis abdriftet. Bei Haro Senft könnte es das 45. Lebensjahr sein, damals in München, als der kleine Junge auf das Pferd des Karussells im Englischen Garten kletterte und von Haros Geheimnissen träumte.



Mondtag - Ein Film von Haro Senft



Hinter dem Zaun - Ein Film von Haro Senft



Sonnentage - Ein Film von Haro Senft