Im Garten des Königs
Hilfsprojekt mit Gästezimmern:

Auf Joy`s Farm am Stadtrand von Chiang Mai
leben thailändische Waisenkinder und Touristen zusammen.

Die etwas andere Pension am Stadtrand von Chiang Mai
wird von einer zwölfköpfigen Thai-Familie geführt.
Sie bringt offenbar ein besonderes Fingerspitzengefühl für
kulturell sensitiven Tourismus mit. Das hölzerne Familiendomizil,
ein traditionelles Mittelkasse-Wohnhaus im Lanna-Stil, steht
auf Stelzen, die zehn Gästezimmer gruppieren sich um den Innenhof
und ein großzügiges Wohnzimmer mit Bibliothek. Touristen fühlen sich
nicht ganz so fremd wie sonst, denn sie werden nicht als "Falangs",
als Fremde, sondern als Mitglieder der auf Zeit erweiterten Familie
betrachtet.

Die Gäste können mit Jampee auf dem Markt einkaufen, ihr
beim Kochen über die Schulter schauen oder mit Großmutter
Yai "Miang" kauen, den etwas bitter schmeckenden thailändi-
schen Ökokaugummi aus grünen Blättern und Ingwer. Und
wenn sie Glück haben, dann ist sogar ein Gästezimmer auf
Joy`s Farm frei. Dort erleben sie dann eine Facette der
thailändischen Realität, die weit entfernt ist vom Erfahrungs-
horizont des durchschnittlichen Touristen. Joy ist seit dem
Tod ihres Vaters uneingeschränktes Familienoberhaupt. Wie
viele Thailänderinnen studierte sie Home Economics und hat
inzwischen mit einem Restaurant samt Pension schon viele
Arbeitsplätze geschaffen.

Ihre Farm liegt eine gute Autostunde von ihrem Elternhaus in
Thailands zweitgrößter Stadt entfernt, auf einem vulkanisch
fruchtbaren Gelände im Forst von König Bhumipol, umgeben
von Wäldern und Hügeln. Auf den Feldern baut Joy nach ökologischen
Kriterien Gemüse, Obst und Erdnüsse an, und hier gibt sie inzwischen
mehr als zwanzig Kindern in extremer Not eine neue Heimat. Es sind
Kinder, deren Eltern verschwunden oder an den Folgen von Aids
gestorben sind. Manche von Ihnen haben auf sich alleine gestellt im
Urwald gelebt, weil ihre Väter und Mütter wegen Drogenhandels im
Gefängnis saßen oder als Staatenlose auf der Flucht aus Burma sind.

"Schule des Lebens" -
nennt sich das ungewöhnliche Projekt,
an dem neben Joy auch der Pädagogikprofessor
Jürgen Zimmer von der FU Berlin beteiligt ist. Und an dem auch
die Besucher von Joy`s House in Chiang Mai teilhaben können.
Vier Gästebungalows stehen auf der weitläufigen Farm für sie
zur Verfügung. Das gemeinnützige Projekt, das neben Spenden
auch von den Einnahmen durch den Tourismus unterstützt wird,
steht unter dem Dach einer Stiftung, des thailändischen
"Rural and Social Management Institute" (RASMI), sowie unter dem
Patronat des Königs.

Auf Joy`s Farm bekommen die Kinder nicht nur ein Dach über dem
Kopf und endlich genügend zu essen, sie werden hier auch
unterrichtet, erfahren Respekt, Zuneigung und lernen das Leben
in der Gemeinschaft. Mit ihrem thailändischen Lehrer üben sie lesen,
schreiben und rechnen und mit den deutschen Volontärinnen,
die sich hier ein paar Wochen engagieren, buchstabieren sie englisch.

"Nachdem sich herumgesprochen hatte", dass wir Kindern in Not
helfen wollen, standen plötzlich fast täglich neue Schutzsuchende
vor der Tür", sagt Anne, eine junge deutsche Pädagogikabsolventin,
die seit einigen Wochen in der "Schule des Lebens" volontiert.
Tula etwa, ein achtjähriger Junge vom Stamm der Lahu, einem der
vielen Bergvölker im Grenzgebiet zu Burma und Laos, ist erst seit
einer Woche auf der Farm. Ein Nachbar fand den Jungen im Wald
auf und brachte ihn hierher. Inzwischen kann der Lahu-Junge schon
seinen Namen schreiben. Den hat er sich übrigens selbst gegeben,
er bedeutet auf Thailändisch soviel wie "etwas Praktisches tun".
Mit unverhohlenem Stolz führt er die Besucher aus dem fernen
Europa zur neuen Wasserpumpe und demonstriert, wie durch
Umlegen eines Hebels Wasser aus der Erde sprudelt.

Noch steht die "Schule des Lebens" erst am Anfang:
Ihr langfristiges Ziel ist es, so Zimmer, den Heranwachsenden
berufliche Perspektiven im Sinne einer buddhistisch inspirierten
Ökonomie zu vermitteln, sie zu sozial verantwortlicher Eigeninitiative
zu erziehen.

Deshalb arbeitet die "Schule des Lebens" nicht isoliert,
sondern bildet ein Netzwerk mit dem Nachbardorf Pongkum,
mit Schulen und Hochschulen in Chiang Mai und Bangkok.
Dazu war viel Vertrauensarbeit nötig, sagt Zimmer, der mittlerweile
mehrere Monate des Jahres in Thailand lebt. "Es hat lange gedauert
den Bürgermeister von Pongkum davon zu überzeugen, dass wir
Kindern in Not wirklich helfen und ihre Notlage nicht ausnützen wollen.
In dieser Region blüht der Kinderhandel. Verarmte Familien aus den
Grenzgebieten verkaufen ihre Töchter an skrupellose Händler,
die sie in den Städten auf den Strich schicken"

Auf Joy`s Farm können "Falangs" nicht nur die ruhige Umgebung
genießen, Wälder und Dörfer erforschen, sie gewinnen auch Einblicke
in die thailändische Wirklichkeit, wie sie die Touristen am Strand
von Phuket nicht zu sehen bekommen. Sie können am Unterricht
der Kinder teilnehmen und abends mit ihnen zu den heißen
Thermalquellen von Pongkum gehen, wo sich alle zusammen mit den
Dorfbewohner auf Thai-Styl waschen: in Unterwäsche und Sarong
am Beckenrand sitzend. Sie können Dschungelstreifzüge unternehmen
und sich zeigen lassen, wie man in der Wildnis überlebt.
Viele der Kinder haben lange im Urwald gelebt, sich von wilden
Früchten, Pilzen und Insekten ernährt.

Und manchmal packen die Touristen sogar selbst mit an in der
"Schule des Lebens" und lassen ein Stück eigener Lebenserfahrung
zurück. Edgar, der als Kunststofftechniker lange Jahre im Ausland
gearbeitet hat und in seiner Freizeit leidenschaftlich Rennrad fährt,
repariert mit To und Som Chai die hauseigenen Mountainbikes,
die sich in einem desolaten Zustand befinden. Dabei lernen nicht
nur die kleinen Thailänder etwas Neues, sondern auch der Deutsche:
die hohe Kunst der Improvisation. Denn Werkzeuge und Ersatzteile
stehen auf der Farm erst mal nicht zur Verfügung.
Doch als Edgar nach vier Tagen abreist, hinterlässt er Joy`s Kindern
ein unscheinbares aber nützliches Souvenir - einen Schraubenschlüssel.

Bettina Winterfeld
Fotos:School for Life
Im Garten des Königs
Süddeutsche Zeitung 2004