Das halb beherrschte Chaos -Reportagen, Essays und Portraits aus 50 Jahren
von Prof. Jürgen Zimmer
verlag das netz Weimar und Berlin
608 Seiten 25 Euro
Er hat unsere Schulen besucht: die Dorfschule von Wasserburg und die "Höhere Lehranstalt an der Kalkhütte" Lindau und schließlich die rettende Insel, Schloss Salem. Dies hinterließ bei ihm einen Traum: eine Schule, in die er gerne gegangen wäre. Heute feiert er seinen 75. Geburtstag in seinem Haus auf der Wasserburger Pfannhalde.
Nach dem Studium der Psychologie und Pädagogik zunächst wissenschaftlicher Mitarbeiter des Max Planck Instituts für Bildungsforschung, Berlin, dann Professor für Erziehungswissenschaften an der Freien Universität Berlin. Hier gründet er das Institut Interkulturelle Erziehung und Bildung und die Internationale Akademie für Innovative Pädagogik, Psychologie und Ökonomie.
Aufsehen erregen seine Artikel als Redakteur des Bildungsressorts der Wochenzeitung DIE ZEIT -eine vielfache Abrechnung mit dem von den Kultusministerien zu verantwortenden Stillstand in der Bildungspolitik nach dem vielerorts verpatzten Start der Gesamtschule. Sein journalistischer Schwerpunkt liegt jedoch in seinen Beiträgen der pädagogischen Fachzeitschrift "betrifft erziehung".
Es genügt ihm nicht, Pädagogen für ihre zukünftige Arbeitslosigkeit im offiziellen Bildungssystem auszubilden. Sie sollen lernen, das auf sie zukommende Chaos wenigstens halb zu beherrschen und mit innovativen Ansätzen nicht unbedingt Sand im Getriebe sondern eher Hefe zu sein, die den notwendigen Gärungsprozess in der Bildungspolitik in Gang setzt.
Er engagiert sich im befreiten Nicaragua als Berater nicht nur in der Alphabetisierungscampagne, sondern für Bildungsinhalte, die aus der Lebenswirklichkeit der Menschen im befreiten Nicaragua stammen. Sein Traum lässt ihn nicht los. Er gründet neue Schulen mit einem ganz anderen Ansatz: "Productive Community Schools". Sie entstehen in Lateinamerika, in Asien und in Afrika. Solche Schulen, die ihre Schülerinnen befähigen, Einnahmen für ihren Lebensunterhalt zu erwirtschaften, eröffnen Perspektiven: learning by earning. Einige Projekte blühen auf wie, das Restaurant der Straßenkinder Manilas, andere versinken in Chaos wie die Initiative für die Kinder am Smoky Moutain auf den Philippinen.
Kindergartenerziehung jenseits der althergebrachten Verwahranstalt wird eines seiner Hauptthemen. Der Situationsansatz weist neue Wege, Kinder zu befähigen sich immer neugieriger und selbständiger in ihrer Lebenswelt zurecht zu finden.
"Macht die Schule auf, lasst Leben rein!" Zimmers Forderung ist in den Achtzigerjahren in den Niederungen der Schulamtsbezirke nicht gerade salonfähig. Schulen, die sich öffnen und das sie umgebende Gemeinwesen in sich aufnehmen, kann sich mancher noch nicht vorstellen, geschweige denn umsetzen.
Zimmers School for Life in Thailand entstand schon vor dem großen Tsunami und ist international bekannt geworden. Sie hat von all dem etwas, was Zimmers Traum darstellt. Anrührend sind die Geschichten der Kinder, die er erzählt. Vielfache Schulpartnerschaften mit der "School for Life" entstehen, eine in dem alten Bau der "Anstalt an der Kalkhütte" in Lindau und ist in das Dierke Erdkundebuch für 8.Klassen aufgenommen worden. Das Buch von Jürgen Zimmer ist eine unerschöpfliche Fundgrube im pädagogischen Neuland, ein literarisch, bildungspolitisch, pädagogischer Abenteuerspielplatz. Der Leser muss es nicht von vorne nach hinten lesen.
Man gibt sich ganz von selbst einer lustvollen Rosinenpickerei hin. Bei mir wird sie noch eine ganze Weile andauern.
Hermann Dorfmüller
Lindauer Zeitung
23. Februar 2013