Zweites kleines Tagebuch aus der School for Life"
26. Juli bis 13. August 2012


Hanseatic School for Life, 26. Juli

Gespräch mit Sommart Krawkeo. Als pädagogischer Manager will er das Konzept der früheren Beluga School for Life im Hinterland der vom Tsunami Ende 2004 verwüsteten Küste wieder zur Blüte bringen. Seit August 2011, seit sich die Turbulenzen um den Untergang der Beluga Group in Bremen langsam legten und abzusehen war, dass die Beluga School for Life unter dem neuen Namen Hanseatic School for Life – von neuen Förderern unterstützt – überleben kann, berate ich das Projekt, das ich nach dem Tsunami 2005 mit aus der Taufe gehoben und bis 2010 pädagogisch geleitet hatte. Es ist eine pro bono-Tätigkeit, und als Kompensation dafür bekommt die School for Life jährlich 20.000 Euro, bis mein Vertrag im Juli 2014 endet.

Somart und ich diskutieren unter anderem über ein Problem, welches nach dem Tsunami nicht nur in Thailand zu beobachten ist: Dass man bei Projekten der "humanitarian aid", wenn sie über Jahre andauern, aufpassen muss, Menschen nicht von externer Hilfe abhängig werden zu lassen. "Entrepreneurship education" und "social entrepreneurship" der Schools for Life sind gute Mittel, um dem vorzubeugen und zu lernen, auf die eigenen Füße zu fallen.

Thalang, 28. Juli

1.Station Bremen:
Ich bin zu Besuch, schlendere durch die Stadt und finde einen Laden, der Schuhe repariert, Schlüssel kopiert und ein paar Uhren verkauft. Seit zwanzig Jahren besitze ich eine Uhr aus der Schweiz, keine teure, aber eine zuverlässige, bei der nun das Glas einen Sprung bekommen und die Batterie ihren Geist aufgegeben hat. Ich bitte den Mann hinter dem Tresen um ein neues Glas und eine neue Batterie. Er bekommt die Abdeckung auf der Rückseite der Uhr auf, aber nicht wieder zu. Nach einer halben Stunde redlichen Bemühens gibt er auf, und ich nehme das Glas, die Uhr und den Deckel und will die Batterie bezahlen. Aber der Mann sagt, das sei gegen seine Ehre, und ich finde das sehr freundlich.

2.Station Berlin:

Mit den Teilen meiner Uhr in der Tasche steuere ich Berlins feinstes Kaufhaus an und dort die feine schweizer Uhrenabteilung. Ich zeige meine Einzelteile und trage meinen Wunsch vor: ein neues Glas und den Deckel wieder drauf. Die Antwort: Ich möge bitte nach einer Stunde wiederkommen. Als ich wieder da bin, teilt mir der Experte hinter dem Tresen mit kummervoller Miene mit, man müsse die Uhr zum Hersteller schicken. Man werde mich informieren, falls die Reparatur mehr als 200 Euro kosten würde. Schluck!
Nach nicht langer Zeit bekomme ich die Mitteilung, ich könne die Uhr abholen. Wieder am Tresen der vornehmen Uhrenabteilung erfahre ich, dass die Uhr nicht zu reparieren sei. Irgendwie bin ich erleichtert. Immer noch besser eine Uhr in Einzelteilen als eine Rechnung in schwindelerregender Höhe für ein Glas und einen zugeschraubten Deckel.

3.Station Thalang/Thailand:
Das ist ein Ort, durch den man eigentlich nur durchfährt, wenn man vom Festland aus der Küstenprovinz Phang Nga über die lange Sarasin-Brücke auf die Insel Phuket und dort in die Stadt Phuket will. In Thalang gibt es einen überdachten Krimskramsmarkt, und nicht weit vom Eingang hockt an einem kleinen Tisch ein alter Uhrmacher. Ich gebe ihm die Teile meiner Uhr und frage, ob er mir helfen könne. Er nickt. Ich setze mich auf einen Schemel ihm gegenüber und lauere darauf, dass er aufgibt. Er prüft zuerst die Batterie und sagt, sie sei neu. Dann setzt er eine Lupe ans Auge und braucht knappe fünf Minuten, um ein neues Glas einzusetzen, vorher die Zeiger, die ein bisschen krumm geworden waren, wieder gerade zu biegen und den Deckel samt Dichtungsring darauf zu schrauben. Dann dreht er sich um und bringt an einer kleinen Poliermaschine die Uhr auf Hochglanz. Ich frage nach dem Preis. Er sagt 280 Baht – das sind so viel wie 7,36 Euro.

Vivat Thalang! Hoch lebe dieser Uhrmacher! Und wenn sich unsere schweizerischen Freunde in Sachen Uhrenreparatur und Preis-Leistungs-Verhältnis nichts einfallen lassen – liegt es an Unfähigkeit, Hochmut, Gleichgültigkeit, Müßiggang, Konsumanheizerei? – dann werden sie irgendwann erleben, dass man im Markt nicht nur aufsteigen, sondern auch untergehen kann.

Chiang Mai, 6. August

Ott, der vom 'Bad Boy' zum Polospieler wurde, ist aus Argentinien zurück. Dort haben sie ihn als kommenden Profi trainiert. Ott ist überwältigt. Soviel wie dort hätte er noch nie in seinem Leben gelernt. Jetzt habe er verstanden, was Lernen bedeute. Jetzt wolle er alles wissen, über Religion, Philosophie, Politik – er habe so viele Fragen, die er beantwortet haben wolle. Dominique Leutwiler ist die richtige Person; sie hört geduldig zu und antwortet geduldig. Nach ein paar Tagen Urlaub in Chiang Mai ist Ott wieder im Polo Club von Pattaya, und es geht weiter aufwärts.

Der Besitzer des Clubs, Harald Link, hat der School for Life drei schöne Pferde gestiftet und Ställe auf einem Gelände an der Lampun Road in Chiang Mai in traditionellem Stil erbauen lassen. Nun ist der Weg frei für die Einrichtung einer Reittherapie. An der Nachfrage wird es nicht mangeln.

Chiang Rai, 7. August

Eltern, Angehörige der Karen, erzählen mir, dass ihre Tochter, die in der grenznahen Stadt Chiang Rai zur Schule geht, von der Lehrerin gemaßregelt worden sei, weil sie – was verboten ist – ihr Haar braun gefärbt habe. Hat sie aber nicht. Ihr Haar – auch das gibt es in Thailand – ist von Natur aus braun, so wie das Haar ihrer Mutter. Die Lehrerin glaubt es nicht und schimpft. Jetzt färbt sich die Tochter jeden Morgen das Haar schwarz, um so auszusehen, als hätte sie es nicht gefärbt. Die Lehrerin verdient eine saure Zitrone.

School for Life, 8. August

Im unteren Teil des Campus nimmt die Fläche zu, auf der ökologische Landwirtschaft betrieben wird. Chanmongkol, der Leiter des 'Center of Organic Farming & Animal Husbandry' begeht mit mir das Gelände. Drunten am Flüsschen, dort wo zwischen engmaschigen Netzen, die von Bambusstangen wie Kästen geformt tief im Wasser liegen und etwa 30 Zentimeter darüber hinausragen, tummeln sich die Fische. Ich frage, ob einige der besonders pfiffigen Fische immer noch über die Netzkante sprängen und das Weite suchten. Schon, schon, antwortet Chanmongkol, es gäbe aber auch Immigranten, die, wenn die Fische im Netzkasten Futter bekämen, von außen nach innen sprängen, um auch an das Futter heranzukommen. So würden sich Aus- und Einwanderer die Waage halten.

Auf dem Feld unterhalb des Sportplatzes wachsen alle Arten von Gemüse, darunter auch Bohnen und Gurken. Anfangs hat Chanmongkol sich gewundert, warum sie verschwinden, bis er merkte, dass die Kinder sie direkt auf dem Feld verspeisen. Zaun drumherum? Nein, der Magen der Kinder ist so oder so die richtige Adresse.

Am offenen, überdachten Schweinestall quieken ein halbes Dutzend junger Schweine. Ein dickes, großes Schwein hält sein Maul auf, weil Suchart, der Farmarbeiter, mit einem Schlauch Wasser spritzt und das glückliche Schwein zugleich duschen und trinken kann.
Wir laufen weiter und besuchen Sucharts Hütte. Dort will ich etwas sehen, von dem ich bisher nichts wusste: die Aufzucht von drei großen Geckos, die noch viel größer werden sollen, nämlich etwa 40 Zentimeter lang und 400 Gramm schwer. Dann, erklärt Chanmongkol, könnten sie für 200.000 Baht (= 5.260 Euro) verkauft und in arabische Länder exportiert werden. Dort würde ein medizinisch begehrtes Serum aus ihnen gewonnen, genauer: aus einer Stelle am Kopf und einer am Schwanz. Dies ist (noch) kein Projekt mit Kindern, sondern Ausdruck der Experimentierlust von Chanmongkol und Suchart, die die Geschichte von den arabischen Traumpreisen aus zuverlässigen Quellen gehört haben wollen.

Ich sehe drei Geckos von halber Unterarmlänge, die, in vergitterten Boxen getrennt gehalten, nichts anderes zu tun haben, als nach lebenden Grillen zu schnappen, die ihnen abends vorgesetzt werden. Die Grillen beziehen Chanmongkol und Suchart von Kru Tomsri, der Lehrerin, die außer einem schönen Gemüsegarten auch noch allerlei Getier, darunter eine Ratte, hält. Die Ratte frisst am liebsten Grillen, und so werden die Grillen in Kru Tomsris kleinem Reich sorgsam und mit Sachverstand gezüchtet.

Namsom, deren Mutter im Frauengefängnis von Chiang Mai ("Besuchszeit") ihre 25 Jahre absitzt, hat auch eine Ratte. Die ist zur Vegetarierin geworden, weil sie immer nur mit Gemüse gefüttert wurde. Namsom liebt die Ratte, und deshalb darf sie überall herumlaufen und überall hinmachen. Namsoms neue Familienlehrerin findet das unhygienisch, und nun geht es darum, die Ratte artgerecht unterzubringen. Der Animationsfilm "Ratatouille", ein Kinohit, der mit Witz und tierklassenkämpferi­schem Bewusstsein die Rehabilitation der Ratte befördert hat, würde Namsom sicher gut gefallen. Gesehen hat sie ihn noch nicht.

Während die Aufpäppelung der Geckos noch in den Anfängen steckt, und ich mir von den beiden Züchtern die beruhigende Auskunft einhole, dass Geckos weder zu den geschützten Tierarten gehören, noch mit einem Ausfuhrverbot belegt sind, läuft in einem dämmrigen Raum neben der Aula ein schon weiter fortgeschrittenes Experiment. Ausgedacht hat es sich Khun Anchana, die in der School for Life als Garant für eine sorgfältige und transparente Finanzverwaltung tätig ist, und die für dieses Experiment den Rat von Wissenschaftlern einer Universität in Bangkok eingeholt hat.

Ein kleines Team aus Kindern und Lehrern zeigt mir den Raum, in dem Seidenraupen gezüchtet werden. Vorne auf einem Tisch Kokons, aus denen die Raupen nunmehr als Schmetterlinge ausgeschlüpft sind. Hinten in einer Ecke ein Kasten, dessen offene Seite den Blick auf eine Anzahl hängender kleiner Stangen freigibt, an denen von Schmetterlingen Eier abgelegt wurden. Die Schmetterlinge, die sich als Raupen an den gerupften Blättern eines Maulbeerbaumes sattgefressen haben, leben für die sieben kurzen Tages ihres Lebens auf Diät, paaren sich, sorgen für den Nachwuchs, flattern im Raum herum und sterben. Ein kurzes Liebesglück. Als ich diese dunklen, großflügeligen Wesen beobachte und auf die Idee komme, ihnen die Tür zu öffnen, um sie in die Freiheit zu entlassen, wird mir bedeutet, dass ich ihnen damit keinen Gefallen erwiese, denn dann würden sie nur schwer einen Partner finden und sich nicht fortpflanzen können. Also ist es besser, sie im geschützten Raum das kleine Glück erleben zu lassen.

School for Life, 9. August

Die erste Rate in Höhe von 20.000 Euro, überwiesen von der Hanseatic School for Life gGmbH in Hamburg, ist unterwegs. Das Geld wird dringend benötigt, weil die Zuwendungen aus Deutschland schmaler geworden sind. Viele Förderer sind viele Jahre treu dabei geblieben, ab er nun sind nicht wenige aus dem Berufsleben ausgeschieden, beziehen Rente oder Pension und müssen mit ihren beschränkten Mitteln haushalten.

Maik Fuellmann, ein international erfahrener Manager, hat sich des Problems angenommen und mit Vertretern einer großen Versicherungsgesellschaft einen Weg ausgeklügelt, der viele Kunden motivieren soll, mit kleinen Beträgen – 6 oder 12 oder 15 Euro – die School for Life monatlich zu unterstützen. Wir sind guten Mutes und hoffen, dass es eine Erfolgsgeschichte wird.

In Deutschland hat sich das Team, das sich der School for Life annimmt, verstärkt: Andreas Dernbach, der in Vietnam über viele Jahre in der Entwicklungszusammenar­beit engagiert war, hat die Stafette von Rita Haberkorn übernommen und ist neuer Direktor des School for Life Instituts der Internationalen Akademie (INA) an der Freien Universität Berlin geworden. Dem Institut gehören ebenfalls Christian Luther an, Prokurist des Digitalen Druckzentrums Laserline in Berlin, der sich um den Aufbau eines Förderkreises, vor allem von Betrieben, kümmern wird; Dr. Julian Bomert von der Deutschen Universität für Weiterbildung, der mit der Robinsohn Stiftung sich um die Gewinnung, Verwaltung und Weiterleitung von Spenden bemüht und die School for Life berät; Ulrich Griesdorn vom Deutschen Stiftungszentrum, ein langjähriger Berater und Förderer des Projekts; Dr. Berndt Tausch, Vorstand der step stiftung in Freiburg, einer Stiftung, die seit vielen Jahren die Bewegungserziehung an der School for Life fördert; und Rita Haberkorn, deren Engagement von Anbeginn die Existenz des Projektes sichern half und deren Rat nach wie vor gefragt ist. Dorothea Schrimpe hat mit Kathrin Ebel zusammen UMIWI gegründet und verkauft zugunsten der School for Life wunderschöne, farbig lasierte Armreifen aus Mangoholz, die in Chiang Mai unter der Supervision von Dominique Leutwiler hergestellt werden. Und Dr. Diethelm Krull ist dazugekommen, der, von der Barbara Hunz Personalmanagement GmbH unter Vertrag genommen, die Mittelakquisition für die School for Life zu seiner Aufgabe gemacht hat.

Am längsten von allen Institutionen ist die Shaul und Hilde Robinsohn Stiftung mit ihren Vorstandsmitgliedern Prof. Dr. Götz Doyé, Rita Haberkorn, Dr. Gerd Harms, Dr. Hans-Hennig Pistor und Dr. Wolfgang Schirp dabei – eine treue Förderin und kompetente Begleiterin der School for Life. Es ist außerordentlich beeindruckend, wie sich diese und viele andere Menschen in Deutschland und Thailand für das Projekt engagieren, und ich bin ihnen sehr, sehr dankbar dafür.

School for Life, 10. August

Der verlag das netz schickt Vorschläge für das Titelbild meines Buchs "Das halb beherrschte Chaos – Reportagen, Essays und Portraits aus 50 Jahren", das im Herbst 2012 erscheinen wird. 600 Seiten Text, viele Illustrationen und ein Titel, der einem Text von Herman Melville entlehnt ist. In "Israel Potter – Seine 50 Jahre im Exil" schreibt er:

"Die Laufbahn eines hartnäckigen Abenteurers erweist sinnfällig den Grundsatz: Wer im Großen Erfolg haben will, darf nicht auf glatte See warten, die es nicht gegeben hat und nicht geben wird, sondern er muss mit der zufälligen Methode, über die er nun einmal verfügt, und mit aller Verblendung auf sein Ziel zustürzen und das Übrige dem Glück überlassen, denn alle menschlichen Verhältnisse sind von Natur aus unübersichtlich, da sie einer Art halb beherrschtem Chaos entspringen und von ihm unterhalten werden."

Die Herstellung des Buchs wird von Laserline und dem Verlag finanziell wesentlich unterstützt, und der Erlös wird – wie auch mein Autorenhonorar – den Kindern der School for Life zugutekommen.

Seit Anfang der 1960er Jahre lernte ich und schrieb viel für die ZEIT in Hamburg, später für andere Zeitungen und Zeitschriften, und ich fand, dass die Neugierde auf die nahe und weite Welt zu Verwicklungen in Situationen eines halb beherrschten Chaos führen können, und dass es darauf ankommt, das Ziel vor Augen zu behalten und dabei gute Einfälle zu entwickeln. Ich habe meine Studentinnen und Studenten ermuntert, sich unterschiedlichen Wirklichkeiten aus verschiedenen Perspektiven zu nähern und für deren Beschreibung eine lebendige Sprache zu wählen und nicht der Annahme zu verfallen, dass ein abstrakter Jargon bereits erkenntnisfördernd sei. Vom Ethnopsychoanalytiker Mario Erdheim erinnere ich die Geschichte, dass er einen Kollegen in einem abgelegenen Teil der Welt – war es Borneo? – besuchte und fasziniert von den Geschichten war, die er abends am Feuer hörte, und dass dieser Kollege ihm zum Abschied einen Artikel schenkte, mit dem Hinweis, darin stünde das, was er erzählt habe, und Mario Erdheim könne im Flugzeug alles noch einmal nachlesen. Als Erdheim dies tat, erkannte er nichts wieder. Die Lebendigkeit und die Farben waren dem Eispanzer des Fachjargons zum Opfer gefallen.

Unsere Befindlichkeit fließt in den Erkenntnisprozess ein. Eine Doktorandin hat dies vor Jahren in ihrer Arbeit, die in Chile der Frage einer Art Übertragung traumatischer Erlebnisse von Gefolterten der Pinochet-Diktatur in die nächste Generation nachging, kenntlich gemacht, indem sie ihre Ängste, Zweifel und offenen Fragen in einem Forschungstagebuch aufschrieb, das auf einer zweiten Ebene den eigentlichen Untersuchungsvorgang ergänzte und kommentierte. "Das halb beherrschte Chaos" kann man als eine in 'Kamerafahrten' übersetzte Biographie der Neugierde auf die Welt verstehen, auf die damit riskierten Verhedderungen und die Versuche, einen Zipfel der konkreten Utopie zu erfassen und festzuhalten.

School for Life, 11. August

Muttertag in Thailand ist dann, wenn die Königin Geburtstag hat. Um 9:00 Uhr in der Früh versammeln wir uns vor ihrem Bild, draußen, in der Nähe der Toreinfahrt. Die Schulleiterin Siriporn liest, mit dem Gesicht zum königlichen Bild gewandt, einen Text der guten Vorsätze vor. So machen es alle Schulleiter in Thailand.

Die Kinder sind heute bekleidet mit dem, was hierzulande "national dress" genannt wird, die Trachten der Lisu, Lahu, Akha, Hmong, Karen, Thaiyai und der Thais des Nordens. Ein farbenprächtiges Bild. Den Muttertag mit Kindern zu feiern, die oft keine Mutter haben, weil sie nicht mehr lebt oder nicht in der Lage ist, sich um ihr Kind zu kümmern, ist eine schwierige und manchmal tränenreiche Angelegenheit.

Ich erzähle den Kindern die Geschichte vom Kreidekreis: Vor vielen, vielen Jahren behaupteten zwei Frauen, sie seien die Mutter desselben Kindes. Sie stritten sich heftig und zogen vor Gericht. Nur eine konnte die richtige Mutter sein. Der Richter hörte die Frauen an, sagte, er wisse auch nicht, wer die richtige und wer die falsche Mutter sei und malte mit Kreide einen großen Kreis auf den Boden. Er stellte das Kind in die Mitte des Kreises und beschied den beiden Frauen, so lange am Kind zu ziehen, bis die Siegerin das Kind aus dem Kreis herausgeholt hätte. Die Frauen begannen zu ziehen, aber dann ließ eine der Frauen los. Die andere Frau triumphierte und meinte, nunmehr das Kind zu besitzen. Doch der Richter nahm ihr das Kind weg und gab es der Frau, die losgelassen hatte, mit den Worten: "Du bist die richtige Mutter, denn du brachtest es nicht übers Herz, dass dein Kind leidet."

Während ich die Geschichte, die in verschiedenen Varianten in verschiedenen Kulturen seit alter Zeit überliefert wird, erzähle, spielen zwei junge Frauen, die mit einer zwölfköpfigen Gruppe des Kolping-Werkes zu einem Workcamp zur School for Life gekommen sind, die beiden Mütter. Sie nehmen ein Kind und tun so, als zögen sie mit allen Kräften. Dann lässt die eine los. Dass ich, nunmehr in der Rolle des Richters, dieser Frau das Kind wegnehme und es der anderen gebe, macht auf die Kinder großen Eindruck, und einige kommen angerannt und hängen wie eine Traube an mir.

Später am Vormittag kommt, wie jedes Jahr zum Muttertag, ein Abt mit seinen Mönchen und mit Nachbarn, die im Umfeld seines Tempels wohnen. Sie bringen ein Lieblingsessen für alle Kinder mit, und der Abt zeigt ihnen, dass ein Muttertag auch ohne Mütter ein guter Tag werden kann.


School for Life, 12. August

Der Blitz hat vor ein paar Tagen eingeschlagen. Nichts Schlimmes ist passiert, kein Brand, niemand ist verletzt. Der Blitz hat nur das Fernsehgerät, den DVD-Player und die Computeranlage außer Betrieb gesetzt. Bis die repariert sind, wird es dauern. Ich nutze die Chance und lese abends Tucholsky, den Band 7 seiner gesammelten Werke. Tucholsky 1929 über Brecht, den Abschreiber, Tucholsky über die zehn Gebote, die er nicht mehr erinnert, Tucholsky mit einem Merkblatt für Geschworene.

Ein paar Tage nach dem Blitzeinschlag gibt es gegen Abend ein neues Gewitter. Nun fällt für Stunden der Strom aus. Bei Kerzenschein, ohne Musik und ohne Film, ist es fast wie damals in Wasserburg am Bodensee 1945, als wir in einem kleinen Schopf von 15 Quadratmetern ohne Strom und Wasser hausten. Wir hörten den Wind und die Wellen des nahen Sees. Und ich lernte, Zigarettenkippen der Besatzer aufzusammeln und sie streichholzschachtelweise bei ehemaligen deutschen Soldaten gegen ein Stück Brot oder einen Maiskolben einzutauschen.